Jubiläumsfixierung. Erste These zur Geschichtskultur

Titelbild: Michelle Tribe

Die erste These zur Geschichtskultur lautet: Unsere (westlich-europäisch geprägte und in dieser Form global ausstrahlende) Geschichtskultur ist jubiläumsfixiert.

Ach was! Ist das die Möglichkeit? Was für ein Aufsehen erregende Feststellung! Unsere Geschichtskultur soll tatsächlich jubiläumsfixiert sein. Wer hätte das gedacht…

Aber woher rührt diese Jubiläumsfixierung? Warum gedenken wir bestimmten Ereignissen nicht dann, wenn es an der Zeit wäre, sondern dann, wenn sie im Kalender stehen? Es wäre eine durchaus naheliegende Lösungsstrategie, sich solchen Fragen wiederum historisch zu nähern. Dann könnte man die durchaus bekannten chronologischen Stationen abklappern, die bis in alttestamentarische Zeiten zurückreichen. [1] In solchen vorchristlichen Zusammenhängen lässt sich das Jubelfest dann vornehmlich als Vergegenwärtigung begreifen, als regelmäßig wiederkehrende Vergegenwärtigung göttlicher Gnaden nämlich sowie als Vergegenwärtigung der Sündenvergebung. Das Jubelfest konnte dazu dienen, Zeit gleichsam aufzuheben, zumindest insofern man das eigene Leben als gläubiger und sündhafter Mensch bei wieder Null anfangen lassen wollte.

Heilige Jahre

Einige Jahrhunderte später, genauer gesagt im Jahr 1300, wurde dieses Jubeljahr dann an ein kalendarisch markantes Datum angehängt und durch das Papsttum zum heiligen Jahr erkoren. [2] Schon an diesen heiligen Jahren, von Rom nach streng mathematischer Teilbarkeit ausgerufen (erst alle 100, dann alle 50, schließlich alle 25 Jahre – und falls nötig, auch mal zwischendurch und außer der Reihe), lässt sich erkennen, dass die Jubiläen eine andere Ausrichtung annahmen. Einerseits sollte Zeit nun nicht mehr aufgehoben, sondern als historische Zeit bestärkt werden. Andererseits zielte das Jubiläum seither auf die Aufmerksamkeit als Ökonomie sowie auf die Ökonomisierung der Aufmerksamkeit. Denn dass es sich bei der Aufmerksamkeit um ein knappes Gut handelt, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis gegenwärtiger Marketingstrategieagenturen. Schon zu anderen Zeiten mussten Personen und Institutionen darum buhlen. Dabei erweist es sich natürlich als vorteilhaft, wenn man die Stellvertretung Gottes auf Erden samt monopolisierter Heilsgarantie für sich beanspruchen kann. Aus dieser Aufmerksamkeitslenkung lässt sich dann selbstredend Kapital schlagen. Honi soit qui mal y pense …

Die protestantischen Kirchen mussten fast zwangsläufig einen anderen Weg einschlagen, weil sie gegenüber dem Katholizismus deutlich zu machen hatten, dass sie vielleicht historisch jünger, inhaltlich aber wesentlich älter waren als die päpstliche Kirche – schließlich beriefen sie sich unmittelbar auf die ersten Gemeinden des frühen Christentums. Gerade deswegen war es wichtig, beim Jubiläum die historische Zeit nicht aufzuheben, sondern zu bestärken. Das geschah, indem man früh zur weit ausholenden Historisierung der eigenen protestantischen Bewegung schritt, aber auch indem man 1617 das erfand, was uns inzwischen mit schöner Regelmäßigkeit ins Haus steht: das historische Jubiläum, das sich von religiösen und nummerischen Fixpunkten gelöst hatte, um stattdessen die Wiederkehr eines vergangenen Ereignisses zu feiern. Das Reformationsjubiläum von 1617 – noch in bescheidenem Ausmaß begangen – war wohl das erste seiner Art.

Mit den Reformationsfeierlichkeiten von 1617 löst sich das Jubiläum mithin von der kalendarischen Zeit, um sich an die historische Zeit anzuheften. Es wird seither nicht mehr einfach nur der Tatsache gedacht, dass (Schöpfungs-)Zeit vergeht, sondern dass sich Geschichte ereignet. Das ist mag auch eine Begründung dafür sein, weshalb das historische Jubiläum eine – so der wohl nicht nur subjektive Eindruck – stetig wachsende Bedeutung erfährt: Anstatt der Tatsache zu gedenken, dass Zeit (durch den Schöpfer) für uns gemacht und gegeben wird, feiern wir den Umstand, selbst unsere Zeit und unsere Geschichte zu machen. Und wenn sich dies auf vorteilhafte Weise zu einem geldwerten Vorteil verarbeiten lässt, werden sich wohl nur notorische Kapitalismuskritiker beschweren.

Jubiläumitis

Aber die Säkularisierungstendenz, die sich in der Transformation des Jubiläums von der alttestamentarischen Schöpferzeit zur gegenwärtigen historischen Zeit zu offenbaren scheint, ist nur eine oberflächliche. Vielmehr erweist sich im historischen Jubiläum ‚die Geschichte‘ einmal mehr als Gottersatz. Denn der Sinn all des Geschehens, das geschieht, ist immer noch präformiert, aber er kommt nun nicht mehr von dort oben, sondern von dort hinten. Aus eben diesem Grund darf man den einen oder anderen Zweifel an unserer historischen Jubiläumskultur hegen: nicht nur, weil dem Historischen nicht dann gedacht wird, wenn es inhaltlich angemessen wäre, sondern wenn es terminlich verlangt wird; nicht nur, weil diese Jubiläen kapitalistisch schamlos ausgesaugt werden; sondern weil das Jubiläum zu einem Fetisch wird, den wir nahezu bedingungslos und besinnungslos anbeten.

Sollte die Historisierung einst dazu gedient haben, in einem aufklärerischen Sinn als Alternative zu religiösen Welterklärungen der Fetischisierung göttlicher Schöpfermacht entgegenzuwirken, dann wurde offenbar übersehen, wie diese Historisierung ihren Produzenten als neuer Fetisch auf die Füße fiel. [3] Und trotz aller berechtigter Beschwerden, die man immer wieder über die Jubiläumitis lesen kann, sehen wir offensichtlich keinen Anlass, an dieser Fetischisierung des Historischen etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil, wir schrauben sie immer weiter in bisher ungeahnte Höhen.

Wenn man den Jubiläumswahn daher schon nicht verhindern kann, dann sollte man ihn konsequent befeuern. Wir sollten alle unseren aktiven Beitrag leisten zu einem massiven Jubiläumsüberschuss, der dann – vielleicht, hoffentlich, endlich – zu einem nicht minder massiven Jubiläumsüberdruss führen möge. Wir sollten so lange und so viele Jubiläen feiern, bis sie uns wirklich zu den Ohren herauskommen, bis so viele Jubiläen so ausgiebig begangen werden, dass wir die Gegenwart eigentlich abschaffen könnten, weil wir unsere Leben nur noch damit verbrächten, Gewesenes zu repetieren, um uns dann endlich einmal zu fragen, was wir denn da angerichtet haben. Deswegen: Gebt uns Luther bis zum Abwinken! Und ich bin mir ziemlich sicher, weniger werden wir auch nicht bekommen.

 

Anmerkungen

[1] Winfried Müller (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004

[2] Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt a.M./New York 1999

[3] Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006

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