Geschichtskultur als Kulturindustrie. Dritte These zur Geschichtskultur

Wat is ne Jeschichtskultur?

Mit den famosen Was-ist-Was-Fragen kommt man ja – wem auch immer sei Dank – nie an ein Ende: Was ist eine Welle im Meer? Was ist eine Doppelhelix? Was ist der Sinn des Lebens? Und die Frage alle Fragen: Was ist eine Dampfmaschine? Wenden wir uns in diesem Sinne und ganz sesamstraßenartig der Frage zu: Was ist Geschichtskultur? Zu diesem Gegenstand existiert eine veritable wissenschaftliche Diskussion, die sich nicht nur, aber zu erheblichen Teilen in der Geschichtsdidaktik tummelt (zahlreiche sachdienliche Hinweise zu diesem Gegenstand finden sich bei Public History Weekly). Es ist hier nicht der Ort, um in diese Debatte einzusteigen oder sie ausführlich wiederzugeben. Hilfreiche Diskussionshinweise stammen von Jörn Rüsen, Bernd Schönemann und Marko Demantowsky [1]. Aber wenn ich schon behaupte, mit diesem Blog Reisen in die deutsche Geschichtskultur zu unternehmen, wäre es wohl angebracht, das Terrain der Reise etwas genauer abzustecken und die Frage zu stellen, welche Geschichtskultur denn aktuell durch das Reformationsjubiläum geprägt wird.

Geschichtskulturen, so kann man feststellen, hat es schon immer dort gegeben, wo sich menschliche Kollektive mit sinnstiftender Absicht auf vergangene Verhältnisse bezogen haben. Schließlich ist es eine nicht ganz unbedeutende Qualität des Menschen, sich auf Wirklichkeiten beziehen zu können, die entweder noch nicht oder nicht mehr existieren. Den verfügbaren Vergangenheiten – verfügbar aufgrund von Erzählungen, Berichten, dokumentarischen Überlieferungen – wird dabei üblicherweise mehr Raum gelassen als den unsicheren Zukünften, allein schon, weil diese Vergangenheiten für gewöhnlich mit einer deutlich größeren Materialfülle aufwarten können. In allen Fällen von Beschäftigung mit Vergangenem ist es aber so, dass nie einfach nur festgehalten und festgestellt wird, was einst geschah. Dieses Geschehene wird vielmehr immer in der einen und anderen Weise, und sei es noch so unterschwellig, zu einem Bestandteil derjenigen Gegenwart gemacht, die sich dieser Vergangenheit zuwendet. Schon der Umstand, sich überhaupt einem vergangenen Geschehen, und dann auch noch ausgerechnet diesem vergangenen Geschehen zugewendet zu haben, knüpft eine Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Vergangenes wird solcherart zur Geschichtskultur einer Gegenwart.

Ubiquitär!

Damit wird ein Problem offenbar, das Diskussionen um die Geschichtskultur immer begleitet: Jeder gegenwärtige Bezug auf Vergangenes ist schon ein Beitrag zur Geschichtskultur, ob intendiert oder nicht. Wenn aber alle Beschäftigungen mit Vergangenheit zur Geschichtskultur beitragen, lässt sich diese Geschichtskultur dann noch von irgendetwas unterscheiden? Ist sie identisch mit der ominösen ‚Geschichte‘ in ihrer Gesamtheit? Belegt sie nicht eigentlich einen erheblichen Teil unseres alltäglichen Handelns, weil wir uns ja beständig auf Vergangenes beziehen? Sind die Zeitungslektüre oder die Plauderei beim Mittagessen über den letzten Urlaub auch schon Beiträge zur Geschichtskultur, weil sie sich auf Vergangenes beziehen?

In der Tat, wollte man versuchen, die Anwesenheit von Vergangenem in unserem Alltag zu katalogisieren, dürfte einem schnell schwindelig werden. Potentiell sind all diese Formen der Bezugnahme auf Vergangenes dazu in der Lage, zur Geschichtskultur beizutragen, wenn sie das auch mit höchst unterschiedlicher Effektivität tun.

Aus diesem Grund mögen einen die allgemeinen Bestimmungen, die bisher zur Geschichtskultur vorliegen, zuweilen etwas unzufrieden zurücklassen. Denn sie sind nicht selten, nun ja, so allgemein gehalten, dass sie sich nur noch unter Schwierigkeiten von irgendetwas anderem halbwegs trennscharf unterscheiden lassen. Wenn Jörn Rüsen, wohl der am häufigsten zitierte Stichwortgeber zum Thema Geschichtskultur, davon spricht, dass sich mit diesem Begriff Phänomene verbinden wie eine intensivierte Erinnerungskultur, die Aufmerksamkeit für historische Debatten auch außerhalb der akademischen Welt, die Bedeutung geschichtlicher Argumente im Zusammenhang öffentlicher politischer Diskussionen oder generell ein allenthalben festzustellender Geschichtsboom, dann kann man sich schon fragen, wo diese Geschichtskultur anfängt und wo sie aufhören soll. Rüsen stellt geradezu einen kleinen Katalog zusammen, wo und wie sich diese Geschichtskultur konkretisiert – eine Auflistung, die sich allerdings bei näherer Betrachtung flugs ins Riesenhafte ausweitet (und Obacht, nun folgt ein etwas längeres Zitat):

„Fachwissenschaft, schulischer Unterricht, Denkmalpflege, Museen und andere Institutionen werden über ihre wechselseitigen Abgrenzungen und Unterschiede hinweg als Manifestationen eines übergreifenden gemeinsamen Umgangs mit der Vergangenheit in Augenschein genommen und diskutiert. ‚Geschichtskultur‘ soll dieses Gemeinsame und Übergreifende bezeichnen. Sie rückt die unterschiedlichen Strategien der wissenschaftlichen Forschung, der künstlerischen Gestaltung, des politischen Machtkampfes, der schulischen und außerschulischen Erziehung, der Freizeitanimation und anderer Prozeduren der öffentlichen historischen Erinnerung so in den Blick, daß sie alle als Ausprägungen einer einzigen mentalen Kraft begriffen werden können. So synthetisiert sie auch Universität, Museum, Schule, Verwaltung, die Massenmedien und andere kulturelle Einrichtungen zum Ensemble von Orten der kollektiven Erinnerung und integriert die Funktionen der Belehrung, der Unterhaltung, der Legitimation, der Kritik, der Ablenkung, der Aufklärung und anderer Erinnerungsmodi in die übergreifende Einheit der historischen Erinnerung.“ [2]

Alle anderen

Was einen bei dieser Aufzählung nervös machen sollte, ist das kleine Wörtchen „andere“, das man auch mit „alle“ übersetzen könnte, so dass „andere Prozeduren“, „andere Einrichtungen“ und „andere Erinnerungsmodi“ schnell in „alle Prozeduren/Einrichtungen/Erinnerungsmodi“ umschlagen können. Wie umfassend das Konzept von Geschichtskultur ist, zeigt die Definition von Rüsen: „Geschichtskultur läßt sich also definieren als praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft.“ Und dabei soll es um nichts weniger gehen als um die „Praxis von Bewußtsein“ und um „menschliche Subjektivität“.[3]

Man stelle sich einfach die Frage, an welchen Orten und in welchen Situationen diese von Rüsen beschriebene Arbeit an der Geschichtskultur vonstattengeht, und man wird wohl zu der Schlussfolgerung kommen müssen, dass sie permanent und allerorten geschieht. Es hilft noch nicht einmal, den scheinbar naheliegenden Rettungsweg einzuschlagen und auf diejenigen Lebensbereiche zu verweisen, die vornehmlich mit der Gestaltung von Zukunft beschäftigt sind – große Teile des Wirtschaftshandelns, Finanzspekulationen, politische Projektionen, technische Innovationen, Vorhaben zur Lösung ökologischer Probleme –, denn all diese Versuche zur Vorbereitung auf das Kommende sind ja nicht nur möglich aufgrund von Daten aus der (ferneren oder jüngeren) Vergangenheit, sondern sind abhängig von bestimmten Formen der Geschichtskultur, die sie nicht zuletzt selbst schaffen, und wenn es sich dabei um eine der trivialsten und gleichzeitig einflussreichsten Aspekte dieser Geschichtskultur handelt, nämlich den Glauben an einen Fortschritt.

Auch konstruktivistische Bestimmungen von Geschichtskultur, wie sie beispielsweise Bernd Schönemann und Marko Demantowsky formuliert haben, helfen bei dem verständlichen Orientierungswunsch mittels Einschränkung des Gegenstandes kaum weiter, weil hier die gesellschaftliche Konstruktion der Vergangenheit in ihrer ganzen breite und Allgemeinheit im Vordergrund steht. Und wo geschieht das nicht?

Lob der Unschärfe

Warum also trotz dieser terminologischen Untiefen weiterhin am Begriff der Geschichtskultur festhalten? Nun, genau deswegen – wegen seiner Unschärfe! Ich halte es gerade im Zusammenhang kultureller, also sinngenerierender Phänomene für kein Manko, den jeweiligen Gegenstand nicht mit dem Schnitt eines Teppichmessers in aller Eindeutigkeit von ähnlich gelagerten Gegenständen abtrennen zu können. Vielmehr erachte ich die inhaltliche Unschärfe der Geschichtskultur für einen großen Vorteil, um einerseits eine Vielzahl unterschiedlicher Vergangenheitsbezüge behandeln zu können und um andererseits diese geradezu erschreckende Allgegenwärtigkeit geschichtskultureller Phänomene zumindest einigermaßen in den Blick zu bekommen. Das kulturell ubiquitäre, parasitär sich ausbreitende und sämtliche Lebensbereiche tangierende Phänomen der Geschichtskultur tut uns nicht den Gefallen, dadurch handhabbar zu werden, dass wir es in ein engeres definitorisches Korsett einzwängen. Die kollektive Praxis würde eine solche Einschnürung leichthin sprengen. Nein, gerade weil alles, was sich unter dem nebulösen Ausdruck der Geschichtskultur fassen lässt, nicht auf die Bereiche einer wie auch immer gearteten ‚Hochkultur‘ beschränkt werden kann, nicht auf das Feuilleton und nicht auf wissenschaftlich-historische Debatten im engeren Sinn, sondern wir alle jederzeit sowohl intendiert als auch nur nebenbei daran beteiligt sind, diese Geschichtskultur zu formen, indem wir Familienfotos in der Wohnung aufhängen, Tagebuch führen, Musik aus vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten hören oder eine bestimmte politische Gruppierung mitsamt ihrer Erzählung, wie es einmal war und wie es demnächst werden sollte, überzeugend finden, arbeiten wir mit an dieser Geschichtskultur – selbst wenn das nie in unserer Absicht lag. Dass diese Geschichtskultur so unscharf bleibt, ist daher weniger ein Hinweis auf konzeptionelle Probleme, sondern belegt eher die Bedeutung des Gegenstands. Mit dem Ausdruck ‚Geschichtskultur‘ lässt sich auf den Umstand verweisen, dass es zu den Vorrechten wie auch Notwendigkeiten menschlicher Kollektive gehört, sich auf abwesende, hier vor allem vergangene abwesende Zeiten beziehen zu können. Es behaupte also niemand, der Ausdruck ‚Geschichtskultur‘ sei unbrauchbar, weil zu schwammig. Denn dann müsste man im Anschluss auch gleich diskutieren, wie wir denn noch sinnvoll sprechen können sollen über solche ‚Gegenstände‘ wie Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Recht, Technik, Zeit, Wirklichkeit, Welt – denn Entschuldigung, wo bitte ist da der eindeutige und scharf einstellbare Gegenstand?

Luther in Plastik

Nehmen wir die produktive Herausforderung der geschichtskulturellen Unschärfe an, dann lassen sich einige Anschlussfragen formulieren. So kann, ja, muss man gerade angesichts des Reformationsjubiläums die Frage stellen, inwieweit die Geschichtskultur, die wir uns in unserer eigenen Gegenwart leisten, mit der good ol‘ Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer zusammenhängt. Ist die Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts unter Umständen eine Konkretisierung von Kulturindustrie, wie sie sich noch nicht einmal die Frankfurter Schule auszumalen wagte?

Sie ist ja bereits vielfach vorgeführt worden, die schöne, neue Reformationsjubiläums-Merchandising-Plastikwelt, prototypisch vertreten durch den Playmobil-Luther, der schon eine halbe Million Mal über den Ladentisch gegangen sein soll. (Auch wenn es bereits zu interreligiösen Verstimmungen wegen dieser Figur gekommen ist.) An Luther-, Katharina-von-Bora- und weiterem Reformations-Nippes besteht wahrlich kein Mangel.

Nun hat nicht erst das Reformationsjubiläum die Vermarktung der Geschichtskultur erfunden. Der Museumsshop gehört als Einrichtung längst zu den unverzichtbaren Bestandteilen entsprechender Kulturinstitutionen. Nur stechen im Falle des Reformationsjubiläums die Luther-Socken und das Katharina-von-Bora-Kochbuch besonders ins Auge, weil doch immer wieder von berufener Stelle betont wird, wie wichtig die ‚Botschaft‘ der Reformation sei. Die Frage wird nur sein, was man nach dem 31. Oktober 2017, also nach der großen Sause und mitten im Reformationsjubiläumskater, von den dann abgelaufenen Feierlichkeiten noch in Erinnerung behalten wird: die Botschaft dieses Ereignisses (aber wie lautete sie gleich nochmal?) oder den freundlich lächelnden Playmobil-Luther.

Ähnlichkeit und Einverständnis

Gehen wir also ganz pennälerhaft das Kulturindustrie-Kapitel bei Horkheimer und Adorno durch, um abzuprüfen, ob das Reformationsjubiläum diesen kulturellen Straftatbestand erfüllt (und wohlgemerkt, die folgende Auflistung ist unvollständig). [4]

– Vorwurf 1: „Kultur schlägt heute alles mit Ähnlichkeit.“ (S. 128) Dem muss man mit Blick auf das Reformationsjubiläum weitgehend zustimmen. Inhaltlich findet eine weitgehende Beschränkung auf die Person Luthers statt, äußerlich werden die gleichen Formen aufgefahren, welche die Kulturindustrie auch ansonsten in petto hat – oder warum findet sich in den Reformationsnippesläden republikweit das identische Angebot?

– Vorwurf 2: „Kulturindustrie endlich setzt die Imitation absolut. Nur noch Stil, gibt sie dessen Geheimnis preis, den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie.“ (S. 139) Solange man meint, sich bei der Beschäftigung mit der Reformation einerseits auf die Person Martin Luthers beschränken, andererseits diese Person auf einige wenige Stichworte reduzieren zu können, die zudem auch noch hemmungslos präsentisch ausgerichtet bleiben (Rebell, Wutbürger, Freiheit, Individualität, Medien …), kann kaum etwas anderes herauskommen, als eine Bestätigung herrschender Verhältnisse.

– Vorwurf 3: „Der [gesellschaftliche] Gegensatz läßt am wenigsten sich versöhnen, indem man die leichte [Kunst] in die ernste aufnimmt oder umgekehrt. Das aber versucht die Kulturindustrie.“ (S. 144) Und in Sachen Reformationsjubiläum war das schon immer besonders gut zu beobachten – auch wenn wir es eher selten mit Kunst im engeren Sinn zu tun haben. Unter Ausschluss der Ultramontanen wurden Reformation und Luther spätestens seit dem 19. Jahrhundert erfolgreich dazu instrumentalisiert, um nationale Einheit über alle gesellschaftlichen Unterschiede hinweg herzustellen (dokumentiert derzeit in Ausstellung im Kloster Dalheim). Und auch im Jahr 2017 wird – erfolgreich – versucht, das Reformationsjubiläum als ein gesamtdeutsches und sogar europäisches Ereignis zu begehen (wenn auch die nationalistischen Töne merklich vermieden werden).

– Vorwurf 4: „[…] die Totalität der Kulturindustrie. Sie besteht in der Wiederholung. […] Mit Grund heftet sich das Interesse ungezählter Konsumenten an die Technik, nicht an die starr repetierten, ausgehöhlten und halb schon preisgegebenen Inhalte.“ (S. 144) Kaum anders zu erklären ist es, dass sich die meisten Programme im Zuge des Reformationsjubiläums zum Verwechseln ähneln und immer die gleichen Fragen stellen. Was hat Luther damals gesagt? – Was kann uns Luther heute noch sagen? – Was hätte Luther heute wohl dazu gesagt? – Und was gab es bei Katharina von Bora zum Abendessen?

– Vorwurf 5: „Die ursprüngliche Affinität aber von Geschäft und Amusement zeigt sich in dessen eigenem Sinn: der Apologie der Gesellschaft. Vergnügtsein heißt Einverstandesein.“ (S. 153) Und dieses Bemühen ist im Jahr 2017 im hohen Maß festzustellen: Reformation und Luther – wenn auch mit Abstrichen hier und da (nobody’s perfect) – zu konsensfähigen Gegenständen zu machen, an denen man sich heute umstandslos und ohne größere Abstriche orientieren können sollte. Gegenstimmen gibt es, aber sie bleiben die Ausnahme.

Luther als Punk

Die Verteidigung mag nun anführen, dass allein schon die Singularisierung von der Kulturindustrie eher in die Irre führen muss. Denn weil die Kulturindustrie immer auch das Potential ihrer eigenen Subversion mit sich führt – man kann ihre Mittel gegen sie selbst wenden –, existiert auch die Möglichkeit zu wirklichen Alternativen, die in der Diversifizierung liegen. Im Umfeld des Reformationsjubiläums waren diese alternativen Ansätze bisher aber eher in Ansätzen auszumachen. Wir müssen immer noch auf Luther als Punk warten. (Und nein, ich meine jetzt nicht eine Lutherdarstellung mit Irokesenfrisur – die gibt es ziemlich sicher schon irgendwo –, sondern auf eine Lutherauseinandersetzung aus einer Punk-Haltung heraus.) Eine Hoffnung besteht in der Reihe „Luther und die Avantgarde“ – wir werden sehen, was dabei herauskommt.

Die Grenzlinien zwischen inhaltlicher Auseinandersetzung und oberflächlichem Konsum lassen sich an den beiden Faktoren Zeit und Komplexität bemessen. Je mehr Zeit in die Herstellung des Reformationsjubiläumsprodukts gesteckt wurde (mehrhundertseitige Biographie, umfangreiche Ausstellung) und je mehr Zeit zu dessen Wahrnehmung nötig ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, die dünne Hülle von „Luther ist ja eigentlich …“-Aussagen zu durchstoßen. Und je größer das Bemühen, die Schwierigkeiten, Verästelungen, Kompliziertheiten und Vielfältigkeiten des Reformationsvorgangs deutlich zu machen, desto geringer die Gefahr, das Jubiläumsgesumse zu einem schnellen Appetithappen werden zu lassen. Dafür bräuchte es gar nicht die von Horkheimer und vor allem von Adorno immer wieder propagierte bürgerliche Hochkultur. Das geht auch durchaus im popkulturellen Zusammenhang. Nur sind leider das subkulturelle Bemühen oder die Underground-Attitüde im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum bisher eher schwach ausgebildet. Stattdessen bekommen wir ein Pop-Oratorium.

 

Anmerkungen

[1] Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann/Theo Grütter/ders. (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln/Weimar/Wien 1994, 3-26; Bernd Schönemann: Erinnerungskultur oder Geschichtskultur?, in: Eugen Kotte (Hg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik, München 2011, 53-72; Marko Demantowsky: Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005) 11-20.

[2] Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann/Theo Grütter/ders. (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln/Weimar/Wien 1994, 4.

[3] Ebd., 5.

[4] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1998, 128-176.

Erasmus-Postille

Titelbild: Babak Fakhamzadeh

Erasmus von Rotterdam und Martin Luther waren sich nicht grün. Als überragende Gestalt der europäischen Gelehrtengemeinschaft war Erasmus einst auch von Luther bewundert worden; Erasmus seinerseits hatte die Kritik des jungen Augustinermönchs an den Praktiken der Papstkirche zur Kenntnis genommen, die seinen eigenen Auffassungen entsprochen haben dürfte. Aber mit der römischen Kirche wollte Erasmus nicht brechen. Und wer sich nicht auf die Seite des Wittenberger Reformators stellte, war in der akuten Gefahr, eines Morgens als dessen Feind zu erwachen. Auch der unumstrittene Humanistenstar des frühen 16. Jahrhunderts war davor nicht gefeit. Öffentlichkeitswirksam vollzogen wurde der Bruch 1524. Erasmus veröffentlichte in diesem Jahr seine Abhandlung über den freien Willen (De libero arbitrio), in der er die freie Entscheidungsmöglichkeit des Menschen zwischen dem Guten und dem Bösen für ein Geschenk Gottes hielt. Martin Luther antwortete ein Jahr später mit einer Schrift über den geknechteten Willen (De servo arbitrio). Darin argumentiert er, der Mensch besitze keinen freien Willen im umfänglichen Sinn, weil er sich beispielsweise nicht dafür oder dagegen entscheiden könne, der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden. Diese Gnade sei ihm immer bereits schon von Gott geschenkt worden – und nun müsse das sündhafte Wesen mit diesem unverdienten Geschenk zurechtkommen. Der menschliche Wille erschien Luther eher wie ein Pferd, wie er schrieb, das vom Teufel geritten und von Gott gelenkt wurde. Keinen von beiden wurde der Mensch wieder los. Es war nur die Frage, wer die Oberhand behielt.

Erasmus und Luther sind sich nie persönlich begegnet. Ob ein solches Treffen von zwei der bekanntesten Männer des damaligen Europa irgendeinen Mehrwert gehabt hätte, werden wir nie erfahren. Erasmus und die „Alternative für Deutschland“ sind sich auch nie begegnet. Auf den Mehrwert eines solchen fiktiven Treffens wäre ich allerdings gespannt gewesen. Was wäre wohl geschehen, wenn jemand wie Erasmus, der die Europäizität Europas gar nicht erst groß propagieren musste, sondern sie einfach selbstverständlich gelebt hat, auf die Mitglieder einer stinknormalen, etablierten Gruppierung von Politiker/innen gestoßen wäre, die sich nicht nur verkrampft von ‚den Etablierten‘ abzusetzen versuchen, sondern das Gegenteil dessen verkörpern, was am Europäischen vorbildlich sein könnte? Nun, in einer solchen Situation hätte Erasmus zumindest Einspruch erheben können, dass sein Name für eine parteinahe Stiftung der AfD missbraucht wird. Nun ist Erasmus leider tot und kann sein Nicht-Einverständnis leider nicht mehr artikulieren.

Nach verschiedenen Anläufen ist der AfD also etwas gelungen, was einem als etablierte Partei, die ständig gegen etablierte Parteien wettert, eigentlich gar nicht gelingen sollte, sich nämlich genauso zu benehmen, wie alle anderen (nicht, dass das gänzlich neu wäre …). Die Desiderius-Erasmus-Stiftung ist am 10. Dezember in Frankfurt a.M. gegründet worden. Sie soll sich vornehmlich aus staatlichen Zuschüssen finanzieren, wie bei anderen etablierten Parteien eben auch. Auch Spenden sind möglich, steuerlich abzugsfähig. Solche Modelle hat die AfD immer wieder angeprangert, solange es ihr Stimmen brachte. Aber nun ist sie wahrscheinlich Opfer des lutherischen geknechteten Willens geworden und kann sich gar nicht mehr entscheiden, für oder gegen die staatliche Gnade der Parteienfinanzierung zu sein, sondern nimmt sie einfach nur noch demütig hin.

Der wirkliche Skandal aber lauert an anderer Stelle: im Namen. Es ist nicht die mögliche namensrechtliche Kollision mit dem Erasmus-Programm der Europäischen Union, sondern der Missbrauch eines Vorzeigeeuropäers – Entschuldigung, aber diese abgedroschene Floskel ist für kaum jemanden so passend wie für Erasmus von Rotterdam – durch eine Partei, die sich Fremdenfeindlichkeit, Anti-Europäismus, Anti-Intellektualismus und Weltverschlossenheit auf die Fahnen geschrieben hat (und die vor gefühlten Urzeiten einmal mit dem wesentlichen Programmpunkt angetreten ist, die Euro-Währung wieder abzuschaffen). Da könnte sich Die Linke auch Donald Trump zum Vorsitzenden wählen oder die CSU Karl Marx zum Parteiphilosophen ausrufen. Man möchte geradezu mit Tony Buddenbrook fragend aufstampfen: „… daß dieses Geschmeiß sich erfrecht, der Sache die Krone aufzusetzen?“ [1]

Aber wirklich verwundern kann es eigentlich kaum. Vorsitzender der Stiftung ist schließlich Konrad Adam, ein der Geschichtsklitterung bereits einschlägig vorbestrafter Zeitgenosse. Da fügen sich die Dinge. Da kann man auch einmal den Namen eines echten Europäers für ein dezidiert antieuropäisches Programm missbrauchen. Kann sich ja nicht mehr wehren.

Und wer weiß, vielleicht haben ja Luthers Ideen vom unfreien Willen, die ich ansonsten für wenig vorbildlich halte, doch einen gewissen Grad an Plausibilität. Zumindest kann man im Falle eines gewissen Bekanntheitsgrades nach dem eigenen Ableben und dem damit einhergehenden Verfall von Persönlichkeitsrechten nicht mehr frei darüber entscheiden, wer oder was den eigenen Namen als Feigenblatt für noch so perfide Inhalte in Anspruch nimmt. Aber wenn Luther in gewisser Weise recht gehabt haben sollte, dann stellt sich auch die Anschlussfrage, von wem das AfD-Pferd denn nun geritten wird – von Gott oder vom Teufel?

Desiderius ist der zusätzliche Vorname, den sich Erasmus selbst gab. Das bedeutet ‚der Ersehnte‘ oder ‚der Erwünschte‘. Vielleicht hat sich der unehelich geborene und damit im Verständnis des 16. Jahrhunderts auch ehrlose Erasmus, dieser lange Ausgegrenzte und im positiven Sinn Vaterlandslose zuweilen gewünscht, ersehnter und erwünschter zu sein. Vielleicht würde er sich heute, wenn er einen Wunsch frei hätte, danach sehnen, nicht permanent für den einen oder anderen politischen Zweck als Namensgeber missbraucht zu werden. Und alle anderen dürfen sich wünschen, sich zumindest ein Stückweit an seinem Vorbild orientieren zu können, indem sie sich dem Menschlichen in seiner Allgemeinheit und seiner Vielheit zuwenden, selbst wenn es unehelich, ausgestoßen und heimatlos daherkommt.

Ich möchte aber ungebührliche Spekulationen über die Person des Erasmus beiseitelassen und ihm lieber selbst das Wort geben. Denn wie diejenigen einzuschätzen sind, die besser sein wollen als alle anderen, um sich schlussendlich wie alle anderen zu benehmen, hat er in seinem „Lob der Torheit“ formuliert. Dabei hat er es auch nicht unterlassen, auf paradoxe Weise die Torheit über sich selbst sprechen zu lassen, so dass man sich beständig fragen kann und muss, ob diese Äußerungen nun besonders zutreffend oder außergewöhnlich närrisch sind:

„Wie nichts dümmer als übertriebene Weisheit, so nichts unklüger als überspannte Klugheit; und überspannt klug ist doch einer, der sich den Tatsachen nicht anpaßt, nichts nach dem Kurs fragt, ja nicht einmal an das alte Trinkgesetz denkt, das da heißt: »Sauf oder lauf!«, und verlangt, daß Komödie nicht Komödie sei. Wer wahrhaft klug sein will, der sage sich: Du bist ein Mensch; drum begehre nicht mehr zu wissen, als dir beschieden, und mach‘s wie die andern – die drücken lachend ein Auge zu oder lassen sich gutmütig über den Löffel balbieren. ‚Gerade das aber‘, sagt man, ‚ist Torenmanier!‘ Ich bestreite es nicht; nur soll man mir zugeben, daß sich so und nicht anders die Lebenskomödie spielt.“ [2]

 

Anmerkungen

[1] Thomas Mann, Die Buddenbrooks, Verfall einer Familie (Gesammelte Werke, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1990, 552.

[2] Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, hg.v. Werner Welzig, 3. Aufl. Darmstadt 2006, 65

LuttaDada 2

Das LuttaDada kann sich freuen. Endlich ist es soweit, endlich ist das Jahr 2017 angebrochen – sein Jahr! Das LuttaDada wird wachsen und gedeihen, denn mit jeder neuen Jubiläumsaktion, die sich die LuttaDadaisten ausdenken aus Anlass dieses 500jährigen Dingsbums, wird es an Bedeutung gewinnen. Die LuttaDadaisierung wird die ganze Welt erfassen! Jawohl, das LuttaDada ist inzwischen anmaßend genug, die Herrschaft über die Welt ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Was ein TrumpDada kann …

Die ersten Anzeichen dieser Weltherrschaft sind unübersehbar. Oder ist irgendjemand der Meinung, es sei ein Zufall ist, wenn eine Gedenkmünze mit dem LuttaDada geprägt werden? Nicht irgendwelche Gedenkmünzen, nein! Auf dieser sieht man das LuttaDada als Superman (oder besser Lutherman) über das Schloss Stolberg fliegen. Da bedarf es keiner weiteren Erläuterung!

Nach dieser eher ungewohnten Art der Fortbewegung beißt das LuttaDada zur Stärkung werbewirksam mit breitem Grinsen, strahlenden Zähnen und einem Gesichtsausdruck, der übergroßen kulinarischen Genuss vermitteln soll, in die neue Luther-Salami. Exklusiv hergestellt von der Firma Naturfleisch Überweißbach. In Bibelform mit aufgedruckter Lutherrose! Auch im Internet zu bestellen! Sola scriptura geht ab sofort durch Magen und Darm!

Derart gestärkt kann sich das LuttaDada der medialen Meute stellen. Jawohl, das LuttaDada hat seine Scheu vor dem öffentlichen Auftritt abgelegt, hat sich aus der Deckung der Reformatoreneinsamkeit herausgewagt, um den ganz großen Medienhäusern exklusive Interviews zu gewähren, die dazu angetan sind, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern. Denn merke: Wer 95 Thesen kann, kann auch visionäre Interviews! Wir haben uns dazu nur mit ausgewählten Medienpartnern zusammengetan. Ein Interview gibt es daher – wenig überraschend – zu sehen beim Zeitungsverlag Waiblingen, das andere beim unvergleichlich einflussreichen Nachrichtenportal Rhein-Neckar „morgenweb“ (das man irritierenderweise auch noch abends konsultieren kann; nun ja).

Wogegen sich das LuttaDada aber mit aller Vehemenz wehren möchte, ist eine Verbindung mit Ronald Pofalla. Das geht nicht! Ein Pofalla kann nicht in Wittenberg den neuen Bahnhof eröffnen, der für das LuttaDada gebaut wurde. Das will das LuttaDada nicht! Und wenn das LuttaDada etwas nicht will, dann wird es auch nicht geschehen. Auch nicht in der Vergangenheit! Es wird also auch nicht geschehen sein! LuttaDadaisten werden diesen Bahnhof nicht benutzen! Sie werden zu Fuß gehen oder Wittenberg weiträumig umfahren, sie werden mit dem Fallschirm abspringen oder einen Tunnel durch das Erdreich graben, aber sie werden keinen pofallaisierten Bahnhof ansteuern. Das LuttaDada hat gesprochen!

Die gewonnene Zeit bei der Vermeidung dieses Bahnhofs lässt sich sinnvoll investieren bei der Beschreibung eines Wunders. Und nun sage bloß niemand, Wunder könne man entweder nur erleben oder bewirken, aber nicht beschreiben. Die Gemeinde Tambach-Dietharz ist da ganz anderer Meinung! Dort soll das LuttaDada nämlich im Jahre des Herrn Eintausendfünfhundertsiebenunddreißig von einem Leiden an den Nieren geheilt worden sein. Aber wie nur geschah dieses Wunder? Und wie konnte es geschehen, obwohl das mit dem Wunderglauben im LuttaDadaismus ja so eine ganz eigene Sache ist? Einigen ordentlich angestellten LuttaDadaisten scheint diese Frage keine Ruhe zu lassen. Pfarrer Gregor Heidbrink aus Finsterbergen – wir alle kennen seinen Krimi „Der gute Mensch von Düsteroda“ – hat mit einigen wackeren Mitstreitenden einen Preis ausgelobt, mit dem ein Text ausgezeichnet werden soll, in dem das Geheimnis kriminalschriftstellerisch gelüftet wird. Das LuttaDada ist insbesondere erfreut über den Abgabetermin für die Texte: 1. April 2017!

Krimis gut und schön – aber muss eine so todernste Sache wie die weltweite Verbreitung des LuttaDadaismus unbedingt auf das Niveau von Kinderspielzeug herabgedrückt werden? Ist denn nur noch Spaß angesagt, wenn es um fundamentale Fragen wie das Seelenheil geht? Es scheint so. Möge es der angemessenen Infiltrierung der Jungendbewegung des LuttaDadaismus (JLD) dienen. Das LuttaDada gibt es nun als „Quiz zu Kirche, Kultur und Konfessionen“. Das LuttaDada gibt es als „Martin Luther – Das Spiel“ mit Proviantkarten, Erfahrungssteinen, Abdeckplättchen, Porträtplättchen, Wegeringen und – besonders einladend – ‚Cranach malt‘-Plättchen. Auf die existentielle Dimension des reformatorischen Vorgangs wird zumindest insofern hingewiesen, als unter Dreijährige an diesem Spiel nicht beteiligt werden sollten. Verschluckungs- und Erstickungsgefahr! Ein Tiefpunkt papistisch-dadaistischer Propaganda ist allerdings das Spiel „Mea Culpa“. Dort, so musste das LuttaDada erfahren, wird doch allen Ernstes um die möglichst gelungene Art des Ablasshandels gestritten, mit der man sich der Himmelspforte nähern soll. Das lehnen wir ab! Dieses Spiel wird sofort verboten! Die Mission des LuttaDada ist noch lange nicht beendet!

Auch heute will das LuttaDada nicht darauf verzichten, einige Veranstaltungshinweise zu geben. Dieses Mal: Das Weltereignis in Blaubeuren! Es locken lustige Liederabende unter dem Motto „Luthers Laute“. Heranwachsende aus der Blaubeurer Jungschargruppe haben spezielle Angebote vorbereitet (auch wenn man hier noch nicht spezieller werden wollte). Außerdem fragt man in Blaubeuren investigativ nach: Ein Bilderverbot in der Bibel? Bedauerlich ist allerdings, dass man sich ansonsten vor Ort vor allem auf den Dialog mit den Menschen freut. Traurig, traurig, unter welchen Ausgrenzungserfahrungen die Tierwelt bei diesem Reformationsjubiläum einmal mehr zu leiden hat. Und was bei den 500-Jahr-Feierlichkeiten niemals und unter gar keinen Umständen fehlen darf, auch nicht in Blaubeuren, ist das Herzstück einer jeden Reformationsjubiläumsveranstaltung, die Krone in jedem Gemeindeprogramm: Kochen wie zu Luthers Zeiten! Guten Appetit!

Lang lebe das LuttaDada!

 

Falk-Postille

Man kann aus Martin Luther einen Freiheitshelden machen. Muss man aber nicht. Man kann die ‚Botschaft‘ der Reformation (wie lautete sie gleich noch?) in das Korsett standardisierter Musicalmelodien packen. Man muss sich das aber nicht anhören. Man kann die geistliche Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts in ein fahrstuhltaugliches Funktionsmusikgeriesel verwandeln. Man muss dafür aber kein Geld ausgeben.

Es gibt einen Mann, der all das nicht nur kann, sondern der wohl auch davon überzeugt ist, dass man es sollte. Man tut Dieter Falk wohl nicht unrecht, wenn man ihn als Überzeugungstäter charakterisiert. Er scheint überzeugt von der Verbreitung der christlichen Botschaft mittels massentauglicher Melodien, und er scheint überzeugt von den popmusikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der 1970er und 1980er Jahre, die er in das frühe 21. Jahrhundert hinübergerettet hat.

Wer ist Dieter Falk? Ihn als Größe im Bereich der deutschen Popmusik zu bezeichnen, ist kaum übertrieben, auch wenn man den Namen noch nie gehört haben sollte. Er wirkt eher im Hintergrund als Mann an verschiedenen Tasteninstrumenten und als Produzent. Die größten Erfolge feierte er als Verantwortlicher für die Aufnahmen der Band Pur – und wenn man das zweifelhafte Vergnügen gehabt sollte, deren Musik schon einmal gehört zu haben (was sich irgendwann in den 1990er Jahren nicht so richtig vermeiden ließ), dann hat man auch schon einiges von den musikalischen Vorlieben Dieter Falks begriffen.

Nun zu behaupten, Dieter Falk hätte die Marke Luther aktuell als Geschäftsmodell für sich entdeckt, ist nur die halbe Wahrheit. Er ist, wie gesagt, Überzeugungstäter, war bereits in den 1980ern bei Aufführungen und Aufnahmen christlicher Popmusik beteiligt. Das Einlassen auf und die Auslassungen zu Luther kommen also nicht von ungefähr. Falk ist nicht jemand, der es sich leichtmacht und auf den aktuellen Trend des Reformationsjubiläums aufspringt. In seinem Fall handelt es sich die konsequente Fortsetzung jahrzehntelanger Arbeit.

Angefangen von der musikalischen Sozialisation im Kirchenchor über die Produktion zahlreicher Schallplatten im Bereich christlicher Popmusik bis zur Aufführung von Musicals, deren Titel den Hauch von Hollywood-Filmproduktionen der 1950er Jahre atmen (Die 10 Gebote! Moses!), ist hier alles vertreten.

Und nun also Luther. Auch hier wird auf der ganzen medialen Klaviatur gespielt (… was für ein Kalauer bei einem Pianisten). Erstens gibt es eine CD „A tribute to Martin Luther“, eine Art instrumentales Jazz-Rock-Gedöns mit Bläsern und Filmorchester und viel Drumherum, begründet unter anderem mit der Aussage, Luther sei der „erste Popmusiker der Kirche gewesen“. Aber Falk bedient, zweitens, auch die Buchsparte und hat gemeinsam mit seiner Frau Angelika für die Deutsche Bibelgesellschaft den Umschlag einer Sonderausgabe der revidierten Luther-Bibel kreiert. Der dritte Beitrag zum Jubiläums-Tingeltangel ist dann aber die ganz große Show: das sogenannte Pop-Oratorium, das auf den einfallsreichen Namen „Luther“ hört. Dessen Aufführung geht dieses Jahr deutschlandweit durch etliche Hallen und Stadien Deutschlands und gibt uns die Reformation mit ihrem Hauptdarsteller als Musical-Aufführung inklusive einem mehrtausendstimmigen Laienchor. Leider klingt das, was man sich bisher anhören kann, ohne die teuren Eintrittskarten für diesen ‚Event‘ zu erstehen, genauso wie es immer klingt, wenn deutsche Chöre versuchen, auf Gospel zu machen. Redlich bemüht.

Das Pop-Oratorium „Luther“ wird uns in diesem Jahr wohl noch häufiger über den Weg laufen. Spätestens am 29. Oktober 2017 können es sich alle öffentlich-rechtlich im ZDF ansehen. Und würde man mich um meine unmaßgebliche musikalische Meinung fragen, würde ich dafür plädieren, keinesfalls mehr der eigenen Finanzmittel als die fälligen Rundfunkgebühren dafür aufzuwenden. Denn die Musik ist zum Fremdschämen schlecht (Beispiele gibt es hier) und die Texte (von Michael Kunze, der unter anderem Texte für Udo-Jürgens-Klassiker wie „Griechischer Wein“ oder „Ich war noch niemals in New York“ geschrieben hat) gehören in die Kategorie des Peinlichen.

Hätten wir ihn da nicht schon wieder, den arroganten Hochkultur-Schnösel in mir, der sich angewidert vom Leichten in der Kunst abwendet? Das mag wohl zutreffen. So wie andere bei John Cage, Pere Ubu oder Charles Mingus schreiend weglaufen, muss ich mir bei dieser Musik die Ohren zuhalten. Das wäre an sich auch kein Problem und vor allem kein Anlass, eine Postille zu verfassen. Streitereien über musikalische Vorlieben bereiten zwar viel Freude, weil man sich so schön sinnlos in Rage argumentieren kann, bleiben aber regelmäßig ergebnislos. Deswegen sollte jeder den eigenen kleinen Musik-Honecker beim Verlassen der Wohnung besser zu Hause (oder zumindest unhörbar) lassen.

Bedenklich wird die Sache, wenn es sich die ‚Macher‘ dieses Machwerks ausdrücklich auf die Fahnen schreiben, kein Interesse an einer Geschichtsstunde zu haben und nicht das 16. Jahrhundert zur Aufführung bringen zu wollen, sondern die Aktualität der Figur Luther betonen möchten: Freiheit, Widerständigkeit, Individualität und eigenständiges Denken („Selber denken“ heißt auch ein Liedtitel), darum soll es gehen, gipfelnd in der Aussage, Luther sei ein „krasser Typ“ gewesen. Der Historiker in mir könnte es sich nun natürlich leichtmachen und diese ausdrückliche Geschichtsferne an sich geißeln. Aber das hieße, die eigenen Prämissen etwas voreilig für allgemeinverbindlich zu erklären. Mit diesem typischen Beispiel für das Weichgespüle des Reformationsjubiläums, diesem goldenen Volksmusikfestival der Vergangenheit, das Massentauglichkeit auf Teufel komm raus erreichen will (und wenn der Teufel gelockt werden soll, wird es doch schon wieder recht lutherisch), muss man aber aus ganz anderen Gründen seine Probleme haben.

Ganz richtig, mir gefällt die Musik nicht. Muss sie auch nicht. Aber das Problem dieser Luther-Verwurstungen und gnadenlosen Aktualisierungen ist letztlich ein ethisches. Denn mit der blanken Zurückweisung jeden historischen Interesses und jeglichen geschichtlichen Anspruchs wird auch die Verantwortung aufgegeben, die wir für die Verstorbenen haben. Und genau das können wir nicht tun (und würden zum Beispiel auch kaum wollen, dass es die Nachlebenden mit uns tun). Es ist nämlich verantwortungslos, die einst Gewesenen als Steigbügelhalter für flotte Erkenntnisse der Gegenwart zu missbrauchen. Um die Frage zu beantworten, wie wir gegenwärtig leben wollen, brauchen wir Luther nicht. Dem Reformationsgeschehen nur ein paar Allgemeinplätze zu entnehmen, wird aber weder der Vergangenheit noch der Gegenwart gerecht. Nicht nur wird das vergangene Geschehen unzulässig verkürzt, wenn man aus Luther einen dufte Popmusiker macht, sondern auch die Gegenwart tut sich keinen Gefallen damit, in ihm einen krassen Typen zu sehen. Er war nämlich ganz nebenbei auch noch ein krasser Judenhasser, ein schräger Apokalyptiker, ein kompromissloser Dogmatiker und ein Fundamentalist reinsten Wassers. Aber ein solcher Luther wäre selbstredend wenig musicaltauglich. Wir können Luther und der Reformation und dem 16. Jahrhundert und der Vergangenheit und überhaupt den vielen Vergangenheiten nicht beikommen, indem wir die vermeintlich simple Frage stellen, was das denn alles für uns heute noch bedeutet. Die Zeiten und ihre Verhältnisse zueinander sind deutlich komplizierter.

LuttaDada 1

Was ist das LuttaDada? Das LuttaDada kommt in vielerlei Gestalt daher. Es passt sich amöbig den Verhältnissen und Gegebenheiten und Erfordernissen an. Das LuttaDada ist immer und überall. Das LuttaDada ist immer da (und immer dada) und trotzdem nie zu greifen.

So schillert das LuttaDada in allerlei Farben. Auch im Münsterland! Denn das Martin – jawohl, man ist mit dem LuttaDada zuweilen schon so vertraut, dass man es beim Vornamen anspricht –, also dieses Martin ist im Münsterland nicht einfach nur ein Mensch. Nein, es ist Plastik, es ist 2,50 Meter groß, es wiegt 50 Kilogramm, und es erscheint in weißer Gestalt. Aber das Schönste: Es kann von innen leuchten! Das LuttaDada wird bunt! Man darf damit auch spielen, sprachen die Münsteraner LuttaDadaisten, man darf es bemalen, ankleiden, mit Zetteln behängen … Einige PapistenDadaisten wollten wohl nicht spielen. Sie schmissen das weiße große LuttaDada einfach in den nächstgelegenen Vorgarten. Auch keine Lösung!

Was aber ein lebensfroher Reformator ist – und nicht anders wollen wir unser LutterDada sehen –, das lässt noch viele weitere Blüten in einem bunten Strauß hübscher Ideen blühen. So schreit der Kraftakt der Reformation geradezu nach einem nicht minder kräftigen Schluck aus einem Krug Luther-Halbe. Jawohl, in Deutschland trinkt ein LuttaDada Bier! Es muss sogar viel Bier trinken, denn für das LuttaDada wird eifrig gebraut. Nicht nur in Amberg! Und was der Amberger kann, das kann der Ulmer allemal. Dort kann man sogar saufen für den guten Zweck. Martin-Luther-Bier, mehr Stammwürze, nur 500 Kästen, jetzt oder nie! Der Erlös geht an die Ärmsten der Armen: an die Ulmer Luther-Gemeinde.

Kaum wieder ernüchtert, muss das LuttaDada – durchaus missvergnügt – zur Kenntnis nehmen, dass in sich in diesem Land inzwischen einige Menschen erfrechen, in der Gewandung des LuttaDada aufzutreten, ja, sich sogar als das LuttaDada selbst auszugeben. Wir werden von einem Imitat imitiert! Die Wahl zum Mister Luther für das Lutherjahr 2016/17 hat der so bezeichnete „Berufsluther“ Bernhard Naumann gewonnen. Auserkoren vom ehrwürdigen Stadtmarketing Wittenberg. Naumann fällt nun das schwere Amt zu, dem unvergleichlichen LuttaDada für die kommenden Monate Gestalt und Gesicht und Stimme zu geben. Dazu: Glückauf! Ihm zur Seite gestellt wurde eine LuttaDada-Gattin. Wie passend. Aber auch sie selbstredend: ein Imitat.

Das LuttaDada will es nicht verabsäumen, die wichtigsten Veranstaltungshinweise für die kommenden Monate mitzuteilen. Dieses Mal: Südharz! Was das LuttaDada allein dort alles auf die Beine stellt: Essen wie bei Luthers! Luthers Freunde zu Gast im Südharz (auch mit Essen)! Ein nicht ganz historischer Besuch Martin Luthers (gibt’s da Essbares?)! Einweihung des Luther-Zimmers in Wülfingerode (da muss aber gegessen werden)! Poesie und Reformation in Liebenrode (mit Geplauder und mit Abendbrot)! Harzblick Wandermarathon (offenbar reformationsfrei; Essen selbst mitbringen)!

Und was ein wahres und großes LuttaDada ist, das fährt nicht mehr in ollen Karossen über Land (auch nicht in den Südharz), nein, das braust in einem Hochgeschwindigkeits-ICE der vierten Generation durchs Gelände, so dass es von niemandem gesehen werden kann, aber auch selbst nichts mehr sieht. Das ist von außen gar kein Zug mehr, das ist eine weiße Linie, die durch die Geographie schießt. Und von innen ist’s keine Landschaft mehr, sondern huschende grün-graue Fläche, die vorbeifliegt. Vielleicht geht so ja auch das ganze Jubilieren schneller vorbei? Wohl kaum. Denn irgendwann wird auch dieser ICE auf freier Strecke ungewollt zum Halten kommen. Störungen im Betriebsablauf. Dann steht er da und kann nicht anders.

Aber dann kann das LuttaDada in seinen Überseereisekoffer greifen und eine der revidierten Bibelausgaben herausziehen, eingehüllt in einen von Prominenten unnachahmlich gestalteten und in einer einmaligen Edition erhältlichen Bibelschuber. Ins Werk gesetzt von ausgewiesenen Anhängern des LuttaDada, von wahren Bibelexperten, von echten Designgrößen: Jürgen Klopp! Uschi Glas! Harald Glööckler! Und anderen Unbekannten! Für 39,99 Euro! Ist das nicht großartig, ist das nicht wunderschön? – Nein, wohl eher nicht.

Lang lebe das LuttaDada!

 

Nachweise: Luther unter den Bögen (Westfälische Nachrichten, 25.10.2016); Statue von Martin Luther in fremden Vorgarten geschleppt (Neue Osnabrücker Zeitung, 31.10.2016); Eine Halbe für Martin Luther (Onetz, 28.09.2016); Brauerei Gold Ochsen: Fassanstich mit Martin-Luther-Bier (aboutdrinks.de, 24.10.2016); Lutherpaar 2017 (Mitteldeutsche Zeitung, 30.10.2016); 12 Schritte zum Reformationsjubiläum (Neue Nordhäuser Zeitung, 25.10.2016); Ein ICE namens Martin Luther (deutschebahn.com); Prominente und die Lutherbibel (Deutsche Bibelgesellschaft)

Verlebendigung. Zweite These zur Geschichtskultur

Echt tot? Gemälde aus der Cranach-Werkstatt nach einer Zeichnung von Lukas Furtenagel 1564 (Titelfoto von Perledarte)

Die zweite These zur Geschichtskultur lautet: Unsere Geschichtskultur setzt auf Verlebendigung und ist personenfixiert.

Diese These lässt sich durch einen recht schlichten Hinweis belegen. Es sei daran erinnert: Wir haben es derzeit mit einem Reformationsjubiläum zu tun, nicht mit einem Lutherjubiläum. Warum wird dann aber deutlich intensiver über die Person Luthers berichtet als über den wesentlich komplexeren Vorgang der Reformation? Möglicherweise genau deswegen: weil diese Reformation so komplex ist? Und weshalb wird auch bei Luther – und zwar durchaus traditionell – viel eher über Persönliches berichtet (sein Charakter, seine Ehe, seine Essgewohnheiten …) oder Mitteilung gemacht von besonderen Ereignissen in[1] Lyndal Roper: Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012

seiner Biographie (Blitzeinschlag! Thesenanschlag! Widerrufsausschlag!) als über das, was seine historische Wirkung tatsächlich ausmachte: seine Theologie? Luthers Lebenslauf und Lebensweise scheinen uns aufgrund einer vertrauten Fremdheit recht nah zu sein. Für seine theologische Gedankenwelt scheint das nicht im gleichen Maß zu gelten. Deshalb sind Kenntnisse über den einen oder anderen zur Legende mutierten Schwank aus seinem Leben quizfragenfähiges Informationsallgemeingut geworden, während man die Inhalte seines Glaubens mit eher größerem Wortaufwand erläutern müsste – und vor allem erläutern müsste, warum diese Theologie zeitgenössisch so ungeheuer wirksam werden konnte.

Verlebendigung als Selbstzweck

Wäre es möglich, dass genau hier der Grund für die Personenfixierung im aktuellen Jubiläumsgeschehen auszumachen ist? Die Inhalte der Reformation sind uns mit einem halben Jahrtausend Abstand so fremd und so erläuterungsbedürftig geworden, dass ein Ausweichen auf den großen Mann als Vertreter derjenigen menschlichen Gattung, die angeblich irgendwann einmal Geschichte gemacht haben soll, durchaus nahezuliegen scheint.

Aber diese Vermutung ist deswegen nicht ganz überzeugend, weil auch bei anderen Jubiläumsbegängnissen ähnliche biographische Fixierungen festzustellen sind. Auch bei den ansonsten häufig im Zentrum stehenden militärischen Auseinandersetzungen, insbesondere Weltkrieg I und II, ist zu beobachten, dass es wesentlich offensichtlicher zu sein scheint, über zentrale Figuren zu sprechen (der große Unnennbare soll hier ungenannt bleiben) als über verwickelte militärische Vorgänge. Die Kenntnisse über die angeblich oder tatsächlich entscheidenden Personen dürften deutlich weiter verbreitet sein als diejenigen über den wechselnden Verlauf von Frontlinien oder die Organisation einzelner Feldzüge. Der Grund für diese Konzentration auf die Handelnden anstatt auf deren Handlungen oder Gedanken in der aktuellen Geschichtskultur scheint leicht auszumachen zu sein, weil sowohl theologische Argumentationen als auch militärische Aktionen oder überhaupt größere Zusammenhänge recht schnell zu komplex oder auch zu abstrakt geraten, um leichthin erfasst werden zu können. Demgegenüber ist der Zugang über die Lebensgeschichte einer Person zunächst wesentlich einfacher, da Gegenstand und Rezeptionsgemeinde zumindest eine wesentliche Gemeinsamkeit teilen, nämlich ein Leben zu leben.

Die Antwort auf das eingangs gestellte Problem steckt also schon in der Frage selbst: Der Zweck der Personalisierung und Verlebendigung innerhalb der Geschichtskultur ist eben, dasjenige zu verlebendigen und zu personalisieren, was wir gemeinhin als ‚die Geschichte‘ bezeichnen und was uns in seiner monumentalen Übermächtigkeit derart zu überragen scheint, dass wir ihm nicht zuletzt auf dem Weg konkreter Lebensgeschichten von konkreten Menschen nahezukommen versuchen. Und warum nicht: Wo kämen wir hin, wenn wir darauf verzichten wollten, persönliche Geschichten über ‚die Geschichte‘ zu erzählen? Wahrscheinlich in eine Form der Struktur- und Sozialgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar akademisch sehr erfolgreich war, aber zugleich einen tiefen Graben zum nicht-akademischen Publikum geschaufelt hat. Daher hat der verlebendigende Zugang ohne Frage einigen Charme. Biographien werden inzwischen ja nicht nur über Menschen erzählt, sondern auch über Städte, Flüsse, Ideen, Gott und den Teufel. Alles lässt sich in den Rahmen einer Lebensgeschichte einfügen.

Wittenberg als Wandtapete

Anlässlich des Reformationsjubiläums haben wir es aber noch mit ganz anderen Formen der Verlebendigung zu tun. Abgesehen von den üblichen Spielfilmen und Fernsehdokumentationen, in denen Luther Wiederauferstehung feiert, wurden wir in jüngster Zeit durch weitere Formen beglückt, die uns Luther möglichst konkret vor Augen führen sollten.

Da ist zum einen das 360 Grad-Reformationspanorama in Wittenberg, das unter der Leitung von Yadegir Asisi entstanden ist und das die Zeit des frühen 16. Jahrhunderts wieder ‚lebendig‘ machen soll. Es reiht sich nahtlos ein in die Tradition der Panoramabilder, die im 19. Jahrhundert zu einem Massenmedium wurden und die ferne Wirklichkeiten oder vergangene Zeiten in das Leben des städtischen Bürgertums holen sollten – beziehungsweise diese Städter in exotische Gegenden oder glorreiche Historien ‚hineinversetzen‘ wollten. Mittels technischer Möglichkeiten ging und geht es also darum, eigentlich unüberwindliche Distanzen von Zeit und Raum verschwinden zu lassen.

Dann ist da zum anderen die digitale Rekonstruktion des lutherischen Charakterkopfes in 3D, erstellt aufgrund der angeblichen Totenmaske. Dieser Digitalkopf dreht sich in einem kurzen Video der Betrachterin zu und schlägt dann auch noch die Augen auf, um sie anzublicken. Nicht genug also, dass Luther zu den meist portraitierten Menschen seiner Zeit mit mehreren hundert Verbildlichungen gehört, inzwischen wird ihm – ähnlich wie dem Ötzi – eine Form der ‚Rekonstruktion‘ zuteil, die uns den Reformator vor Augen stellen soll. Und das ausgerechnet aufgrund einer Totenmaske, von der man sich eigentlich nur sicher sein kann, dass sie nicht von Luther stammt. [1]

Vom Jetzt ins Früher

Abgesehen davon, dass man es technisch kann, gibt es einen weitergehenden Erkenntniswert solcher Verlebendigungen? Rückt uns Luther näher, wenn wir ihn in all der Übergewichtigkeit seiner letzten Lebensjahre vor uns sehen? [2] Können wir uns in die Zeit der Reformation ‚hineinversetzen‘, um diese höchst problematische Vokabel zu verwenden, wenn wir uns via Fototapete durch das Wittenberg des 16. Jahrhunderts bewegen?

Was daran so problematisch anmuten muss, ist die Erzeugung einer nahezu magischen Illusion, der Vorstellung nämlich, der Unterschied zwischen Jetzt und Früher ließe sich unproblematisch auflösen. Nichts anderes soll die Verlebendigung bewerkstelligen: so zu tun, als sei die Vergangenheit auf unmittelbare Weise wieder gegenwärtig zu machen. Eigentlich ein im höchsten Maße ‚vormodernes‘ Verfahren, zumindest wenn man mit diesen problematischen Kategorien des ‚Modernen‘ und des ‚Vormodernen‘ umgehen möchte. Warum eine solche Unterscheidung schwierig sein könnte, macht die verlebendigende Geschichtskultur selbst deutlich: Weil ‚wir Modernen‘ mit einem ‚vormodernen‘ Ansatz operieren und die Unterschiede zwischen den Zeiten verschwinden lassen. ‚Modern‘ wäre dann vor allem die technische Umsetzung – aber der Inhalt mutet nahezu archaisch an.

Auf Umwegen gelänge es uns dann doch, eine Gemeinsamkeit und Verbindung zu Martin Luther und seiner Zeit (oder besser: seinen Zeiten) herzustellen. Denn hatte er nicht mit den medial-technischen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, ähnliches vor? Wollte nicht auch er die Kirche ‚re-formieren‘, also in eine Form zurückführen, die sie angeblich bei den ersten Gemeindegründungen des Urchristentums schon einmal besessen hatte und wie sie in den Worten des Neuen Testaments überliefert war? War die Bibel nicht sein Breitleinwandpanorama und waren die Briefe des Apostel Paulus für ihn nicht so lebendig, dass er sie unmittelbar auf seine Gegenwart beziehen konnte?

 

Anmerkungen

[1] Jochen Birkenmeier: Luthers Totenmaske? Zum musealen Umgang mit einem zweifelhaften Exponat, in: Luther-Jahrbuch 78 (2011) 143-189

[2] Lyndal Roper: Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012

 

Bett-Postille

Man kann nicht sagen, dass der japanische Künstler Tatzu Nishi den Reformator Martin Luther von seinem Sockel geholt habe. Eher im Gegenteil. Er hebt uns auf Sockel hinauf. Mit der Installation „Als dann flugs und fröhlich geschlafen (In bed with Martin Luther)“ hat Tatzu Nishi das Eisenacher Martin-Luther-Denkmal mit einem vollständigen, sehr durchschnittlichen deutschen Schlafzimmer umbaut. Und zwar auf Sockelhöhe. Man kann nun ein Gerüst ersteigen, um dieses Schlafzimmer zu betreten und die einstige Luther-Statue aktuell als Bett-Statue zu begutachten.

Ist das nun Kunst oder höherer Blödsinn? Will hier jemand den Reformator veräppeln – oder warum muss man ihn ins Bett zerren (oder korrekt formuliert: ihn mit einem Bett umstellen)?

Es mag schon sein, dass Tatzu Nishi uns nicht nur auf den Sockel heben, sondern mit seiner Installation auch auf den Arm nehmen möchte. Und das ist gut so. Denn er spielt auf sehr intelligente, weil irritierende Weise mit der Frage, wie aktuell uns dieser Luther heute noch sein kann, was uns dieser Luther gegenwärtig bedeutet und wie nahe beziehungsweise entfernt uns dieser Luther ist. Mit eben diesen Fragen von Nähe und Distanz jongliert die Sleep-In-Installation.

Es ist insbesondere das heroisierte und nationalistisch aufgeladene Luther-Bild des 19. Jahrhunderts – das Eisenacher Luther-Denkmal wurde 1895 eingeweiht –, das durch die Installation konterkariert wird. Aus dem deutschen Übermenschen wird durch die Positionierung im Bett wenn schon keine Alltagsperson, dann doch zumindest ein entsockelter Heros. Man kann dem Reformator, der ansonsten mehrere Meter über den Betrachtenden thront, ganz nahekommen, kann den Helden veralltäglichen und kann sich vielleicht sogar für einen Moment der Illusion hingeben, die historische Distanz eines halben Jahrtausends zum Reformator zu überbrücken.

Aber der Clou der Installation besteht darin, durch die Bettsituation nicht nur Nähe zu schaffen, sondern durch die übergroße Intimität des Schlafzimmers auch schon wieder Distanz herzustellen – der Eintritt in die fremde Bettstatt als Moment der Scham.

Was also bedeutet uns Luther heute? Tatzu Nishi hat diese Frage auf komplexe und durchaus widersprüchliche Weise adressiert. Einige mögen darin den ‚Untergang des Abendlandes‘ sehen, wie manche kritische Stimmen sich mit Blick auf das Kunstwerk geäußert haben sollen. Aber wenn es darum geht, nationalistisch aufgeblähte Heroen vom Sockel zu holen, dann kann dieses Abendland meines Erachtens gar nicht schnell genug untergehen.

Jenseits von Aktualisierung und Historisierung

Aktualisierung

Der erste größere Reformationsjubiläumsschluckauf hat das Land einmal durchgerüttelt. Es wird nicht der letzte gewesen sein. Zum 499. Begängnis des – ja, des was eigentlich? Des Thesenanschlags wohl nicht, der Thesenanschläge wohlmöglich, der brieflichen Thesenversendung recht sicher, der Thesenanleimung unter Umständen … Auf jeden Fall wurde beim 499. Jahrestag des Ereignisses, bei dem wir gar nicht so genau wissen, was sich eigentlich ereignet hat, schon einmal groß aufgefahren, obwohl es ja erst das Aufwärmen für das wirkliche Jubiläum gewesen sein soll, erst der Auftakt für die einjährige Dauerfanfare in Rotationsschleife, die Ende Oktober 2017 in einen großen Tusch münden wird. Es wurde noch nicht alles aufgeboten, eher das Übliche serviert. Zum 3. Oktober 2016 haben zahlreiche Zeitungen, Fernsehsender, Internetseiten und sonstige Medien mit dem Reformationsthema aufgemacht, die Evangelische Kirche in Deutschland hat einen sehr ökumenisch ausgerichteten Eröffnungsgottesdienst gefeiert, der Papst hat die Reformationsfeierlichkeiten im schwedischen Lund besucht, und ein Staatsakt wurde in Berlin gefeiert mit all den Granden, die dieses Land so herzugeben hat.

Dominierendes Thema dieser ersten Reformationseruption war die Frage, was uns dieses Ereignis samt seiner herausragenden Gestalt Martin Luther denn heute noch bedeuten könnte. Eine naheliegende Frage, so möchte man meinen. Denn wozu sollten solche historischen Feierlichkeiten gut sein, wenn nicht zur kollektiven Selbstreflexion im Angesicht der Vergangenheit (die in einer etwas befremdlichen, possessiv-adjektivischen Formulierung dann auch flugs zur ‚eigenen‘ Vergangenheit wird)?

Ja, wozu sollten solche Feierlichkeiten eigentlich gut sein? Der Schwerpunkt der öffentlichen Debatte setzt eindeutig auf Aktualisierung. Es wird also versucht, den historischen Vorgang der Reformation, noch viel häufiger aber die historische Figur Martin Luthers in unsere Zeit zu übertragen. Dankenswerterweise halten diese beiden Gegenstände der gegenwärtigen Betrachtung derartig viele Facetten bereit, dass sie sich für nahezu jede Form der Aktualisierung anbieten. Da kann man dann aus der Reformation einen Aufruf zu Toleranz, Freiheit, Individualisierung und Nächstenliebe machen, sie aber ebenso zur Mutter aller Glaubenskriege oder zum Beginn eines schier endlosen Abschlachtens im Namen des wahren Glaubens machen. Da kann man Martin Luther verstehen als Vorkämpfer der Freiheit, als Schöpfer der deutschen Sprache, als Ausgang der breiten Bevölkerungsmassen aus einer fremdverschuldeten Unmündigkeit – oder als Judenhasser, als Fürstenknecht und als theokratischen Hassprediger, der heute dem sogenannten Islamischen Staat gut zu Gesicht stünde.

 

Historisierung

Darf man also, bloß weil Jubiläum ist, mit Luther, Reformation und dem ganzen Drum und Dran machen, was man will? Alle basteln sich die Version des Geschehens, die ihnen gerade in den Kram passt? Der Gegenentwurf zur teils gnadenlosen Aktualisierung (gipfelnd in der immer wieder gestellten Frage, die sich eigentlich von selbst verbieten sollte: Was würde Luther heute wohl dazu sagen?) liegt auf Hand und hört auf den Namen Historisierung. Wenn man die Verhältnisse und Ereignisse und Personen von um 1500 nicht einfach um ein halbes Jahrtausend versetzen und in die Gegenwart beamen darf, dann sollte man sie konsequenterweise in ihren jeweiligen historischen Umständen begreifen. Wir alle müssten als Reformationsjubilierende also zunächst zu hinreichend versierten HistorikerInnen werden, um halbwegs angemessen über diesen Gegenstand sprechen zu können.

Das scheinen Alternativen zu sein, die sich zunächst einmal gegenseitig ausschließen. Das Jubiläumsereignis bezieht sich zwar auf die Reformation, findet aber hier und heute statt, kann also gar nichts anderes tun als einem Aktualisierungsbedürfnis nachzugeben. Umgekehrt gehört das Reformationsereignis zweifellos der Vergangenheit an, es ist uns in vielen Bereichen fremd und unverständlich, weshalb eine Historisierung unausweichlich erscheint, um nicht den Kardinalfehler im Umgang mit Vergangenheiten schlechthin zu begehen, sie nämlich nach Kriterien zu beurteilen, die überhaupt nicht die ihren waren und nach denen sie folgerichtig auch gar nicht handeln konnten.

 

Jenseits

Aber auch wenn eine riesige Kluft zu bestehen scheint zwischen dem Martin Luther in Playmobil-Gestalt auf der einen Seite, der uns vertraut lächelnd anblickt und somit zu unserem unmittelbaren Zeitgenossen wird, und dem Martin Luther, der uns auf der anderen Seite in seinen Schriften entgegentritt, der uns sprachlich, gedanklich und hinsichtlich seiner Überzeugungen doch sehr weit entfernt anmutet – trotz dieser vermeintlichen Kluft haben Aktualisierung und Historisierung doch eines gemeinsam: Sie wollen uns beide auf ihre Art weismachen, dass man sich durch die Zeit bewegen könnte. Die einen nehmen Luther, die Reformation und was sich um 1500 noch Nützliches finden lässt und versetzen es in die Gegenwart. Die anderen fordern uns dazu auf, die Geschichtsmaschine (wenn schon nicht die Zeitmaschine) zu besteigen, um die Gegenwart zu verlassen und der Reformation dadurch gerecht zu werden, dass wir sie in ihren Zusammenhängen begreifen.

Möglicherweise ist das Problem der Geschichtskultur, die sich hier offenbart, also nicht, dass man sich entscheiden muss zwischen einem Martin Luther, der als Laienschauspieler händeschüttelnd durch unsere Fußgängerzonen spaziert, oder einem Martin Luther, der als Cranach-Bild in einem Museum unnahbar hinter Sicherheitsglas hängt. Möglicherweise ist das Problem dieser Geschichtskultur eher das Zeitmodell, das ihr zugrunde liegt – ein Modell nämlich, das Zeit immer noch als Linie oder als Pfeil konzipiert und das einen historischen Zusammenhang allein schon dadurch herzustellen vermag, dass sich die Ereignisse auf dieser Linie chronologisch anordnen. Und auch wenn sich die Gerichtetheit bestimmter biologischer oder physikalischer Prozesse ebenso wenig leugnen lässt wie die Entropie und die Thermodynamik, so kann man doch kulturelle Umgangsweisen mit der Zeit nicht darauf reduzieren. In kultureller Hinsicht sind wir nämlich in der Lage, nahezu beliebig viele Beziehungen zu anderen, abwesenden Zeiten herzustellen, mögen diese in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen.

Aber hier liegen sowohl in analytischer als auch in produktiver Hinsicht auch die Chancen einer Geschichtskultur: ein gesellschaftliches und kulturelles Feld zu sein, in dem jeweils neue Verzeitungen hervorgebracht werden und in dem solche Verzeitungen auch untersucht werden können. Dazu braucht es ein anderes, kulturelles Verständnis zeitlicher Phänomene, das der Tatsache gerecht wird, dass Menschen nun einmal dazu in der Lage sind, sich gleichzeitig und auf vielfache Weise auf abwesende Zeiten beziehen zu können. Aktualisierung und Historisierung wären dafür nur zwei Formen.

Jubiläumsfixierung. Erste These zur Geschichtskultur

Titelbild: Michelle Tribe

Die erste These zur Geschichtskultur lautet: Unsere (westlich-europäisch geprägte und in dieser Form global ausstrahlende) Geschichtskultur ist jubiläumsfixiert.

Ach was! Ist das die Möglichkeit? Was für ein Aufsehen erregende Feststellung! Unsere Geschichtskultur soll tatsächlich jubiläumsfixiert sein. Wer hätte das gedacht…

Aber woher rührt diese Jubiläumsfixierung? Warum gedenken wir bestimmten Ereignissen nicht dann, wenn es an der Zeit wäre, sondern dann, wenn sie im Kalender stehen? Es wäre eine durchaus naheliegende Lösungsstrategie, sich solchen Fragen wiederum historisch zu nähern. Dann könnte man die durchaus bekannten chronologischen Stationen abklappern, die bis in alttestamentarische Zeiten zurückreichen. [1] In solchen vorchristlichen Zusammenhängen lässt sich das Jubelfest dann vornehmlich als Vergegenwärtigung begreifen, als regelmäßig wiederkehrende Vergegenwärtigung göttlicher Gnaden nämlich sowie als Vergegenwärtigung der Sündenvergebung. Das Jubelfest konnte dazu dienen, Zeit gleichsam aufzuheben, zumindest insofern man das eigene Leben als gläubiger und sündhafter Mensch bei wieder Null anfangen lassen wollte.

Heilige Jahre

Einige Jahrhunderte später, genauer gesagt im Jahr 1300, wurde dieses Jubeljahr dann an ein kalendarisch markantes Datum angehängt und durch das Papsttum zum heiligen Jahr erkoren. [2] Schon an diesen heiligen Jahren, von Rom nach streng mathematischer Teilbarkeit ausgerufen (erst alle 100, dann alle 50, schließlich alle 25 Jahre – und falls nötig, auch mal zwischendurch und außer der Reihe), lässt sich erkennen, dass die Jubiläen eine andere Ausrichtung annahmen. Einerseits sollte Zeit nun nicht mehr aufgehoben, sondern als historische Zeit bestärkt werden. Andererseits zielte das Jubiläum seither auf die Aufmerksamkeit als Ökonomie sowie auf die Ökonomisierung der Aufmerksamkeit. Denn dass es sich bei der Aufmerksamkeit um ein knappes Gut handelt, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis gegenwärtiger Marketingstrategieagenturen. Schon zu anderen Zeiten mussten Personen und Institutionen darum buhlen. Dabei erweist es sich natürlich als vorteilhaft, wenn man die Stellvertretung Gottes auf Erden samt monopolisierter Heilsgarantie für sich beanspruchen kann. Aus dieser Aufmerksamkeitslenkung lässt sich dann selbstredend Kapital schlagen. Honi soit qui mal y pense …

Die protestantischen Kirchen mussten fast zwangsläufig einen anderen Weg einschlagen, weil sie gegenüber dem Katholizismus deutlich zu machen hatten, dass sie vielleicht historisch jünger, inhaltlich aber wesentlich älter waren als die päpstliche Kirche – schließlich beriefen sie sich unmittelbar auf die ersten Gemeinden des frühen Christentums. Gerade deswegen war es wichtig, beim Jubiläum die historische Zeit nicht aufzuheben, sondern zu bestärken. Das geschah, indem man früh zur weit ausholenden Historisierung der eigenen protestantischen Bewegung schritt, aber auch indem man 1617 das erfand, was uns inzwischen mit schöner Regelmäßigkeit ins Haus steht: das historische Jubiläum, das sich von religiösen und nummerischen Fixpunkten gelöst hatte, um stattdessen die Wiederkehr eines vergangenen Ereignisses zu feiern. Das Reformationsjubiläum von 1617 – noch in bescheidenem Ausmaß begangen – war wohl das erste seiner Art.

Mit den Reformationsfeierlichkeiten von 1617 löst sich das Jubiläum mithin von der kalendarischen Zeit, um sich an die historische Zeit anzuheften. Es wird seither nicht mehr einfach nur der Tatsache gedacht, dass (Schöpfungs-)Zeit vergeht, sondern dass sich Geschichte ereignet. Das ist mag auch eine Begründung dafür sein, weshalb das historische Jubiläum eine – so der wohl nicht nur subjektive Eindruck – stetig wachsende Bedeutung erfährt: Anstatt der Tatsache zu gedenken, dass Zeit (durch den Schöpfer) für uns gemacht und gegeben wird, feiern wir den Umstand, selbst unsere Zeit und unsere Geschichte zu machen. Und wenn sich dies auf vorteilhafte Weise zu einem geldwerten Vorteil verarbeiten lässt, werden sich wohl nur notorische Kapitalismuskritiker beschweren.

Jubiläumitis

Aber die Säkularisierungstendenz, die sich in der Transformation des Jubiläums von der alttestamentarischen Schöpferzeit zur gegenwärtigen historischen Zeit zu offenbaren scheint, ist nur eine oberflächliche. Vielmehr erweist sich im historischen Jubiläum ‚die Geschichte‘ einmal mehr als Gottersatz. Denn der Sinn all des Geschehens, das geschieht, ist immer noch präformiert, aber er kommt nun nicht mehr von dort oben, sondern von dort hinten. Aus eben diesem Grund darf man den einen oder anderen Zweifel an unserer historischen Jubiläumskultur hegen: nicht nur, weil dem Historischen nicht dann gedacht wird, wenn es inhaltlich angemessen wäre, sondern wenn es terminlich verlangt wird; nicht nur, weil diese Jubiläen kapitalistisch schamlos ausgesaugt werden; sondern weil das Jubiläum zu einem Fetisch wird, den wir nahezu bedingungslos und besinnungslos anbeten.

Sollte die Historisierung einst dazu gedient haben, in einem aufklärerischen Sinn als Alternative zu religiösen Welterklärungen der Fetischisierung göttlicher Schöpfermacht entgegenzuwirken, dann wurde offenbar übersehen, wie diese Historisierung ihren Produzenten als neuer Fetisch auf die Füße fiel. [3] Und trotz aller berechtigter Beschwerden, die man immer wieder über die Jubiläumitis lesen kann, sehen wir offensichtlich keinen Anlass, an dieser Fetischisierung des Historischen etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil, wir schrauben sie immer weiter in bisher ungeahnte Höhen.

Wenn man den Jubiläumswahn daher schon nicht verhindern kann, dann sollte man ihn konsequent befeuern. Wir sollten alle unseren aktiven Beitrag leisten zu einem massiven Jubiläumsüberschuss, der dann – vielleicht, hoffentlich, endlich – zu einem nicht minder massiven Jubiläumsüberdruss führen möge. Wir sollten so lange und so viele Jubiläen feiern, bis sie uns wirklich zu den Ohren herauskommen, bis so viele Jubiläen so ausgiebig begangen werden, dass wir die Gegenwart eigentlich abschaffen könnten, weil wir unsere Leben nur noch damit verbrächten, Gewesenes zu repetieren, um uns dann endlich einmal zu fragen, was wir denn da angerichtet haben. Deswegen: Gebt uns Luther bis zum Abwinken! Und ich bin mir ziemlich sicher, weniger werden wir auch nicht bekommen.

 

Anmerkungen

[1] Winfried Müller (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004

[2] Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt a.M./New York 1999

[3] Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006

Söder-Postille

Wie nahezu alle Teilnehmer am Medienmarkt machte auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ in der letzten Oktoberwoche, genauer in der Ausgabe vom 27. Oktober 2016, mit einem Luther-Thema auf. Waltraud Lewin ist dort mit einem Luther-Portrait vertreten, das leider einige historische Unzulänglichkeiten aufweist, und einige Prominente aus Politik, Kirche, Kultur, Wirtschaft, Journalismus und anderen einschlägigen Lebensbereichen wurden aufgefordert, möglichst knapp, um nicht zu sagen: thesenartig die Frage zu beantworten, was denn heute noch christlich sei. Und man wird nicht darauf kommen, wie viele meistens mehr und manchmal minder bekannte Menschen zum Mitmachen aufgefordert wurden bei diesem durchaus passenden Schwerpunkt des bürgerlichen Wohlfühl-Blatts – genau, es waren 95.

Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist, dass es Markus Söder, ein bisher nicht als Luther-Experte in Erscheinung getretener Politiker aus Südostdeutschland, auf Platz 1 der Thesenliste geschafft hat. Man fühlt sich auf unangenehme Weise an Kinder aus der Schulzeit erinnert, die bei jeder noch so nebensächlichen Frage der Lehrerin immer als erste den Finger erhoben und sich zu Wort meldeten, begleitet von einem lautstarken „Ich! Ich! Ich!“. Als hätten nicht alle schon längst gemerkt, dass es um nichts anderes ging als um „Ich!“ Welche Zeitung man aufschlägt und welchen Fernsehsender man einschaltet, an „Ich!“-Markus Söder kommt man nicht vorbei.

Nun hat er sich auch an die erste Stelle der Luther-Deuter und Christentums-Verantwortlichen in der „Zeit“ gearbeitet. Und was ist seine Botschaft? Man solle wieder mehr auf Luther hören, ergo den Leuten aufs Maul schauen und deutsch mit ihnen reden. Ist nur die Frage, ob er da tatsächlich von Luther spricht oder eher seine eigene politische Agenda formuliert.