Jubiläum war schon

 

Nun, da das Reformationsjubiläum vorbei ist, können wir uns alle endlich entspannt zurücklehnen. Alle wesentlichen inhaltlichen Aussagen sind gemacht, alle Marketingartikel sind produziert, alle Museen sind vollgestopft, alle Reden sind vorbereitet, alle Fernsehdokumentationen sind produziert.  Jetzt ist nur noch die konsumierende Seite gefragt, jetzt müssen nur noch ‚die Menschen‘ – was für eine politisch missbrauchte Formel! – das Reformationsjubiläum sehen, hören, essen, kaufen, einschalten. Wäre es nicht eine Mischung aus Bigotterie und Blasphemie, man müsste auf die Knie fallen um dem Herrn zu danken, dass dieser Kelch wenn schon nicht an uns vorübergegangen ist, dann doch wenigstens bald ausgetrunken sein wird.

Manche sollen der Überzeugung sein, das Reformationsjubiläum habe etwas mit dem Glauben zu tun. Das denke ich schon auch. Nur ist die Frage, ob es sich um einen Glauben im religiösen Sinn handelt oder eher um den Glauben an eine ‚Geschichte‘, die unter anderem dadurch hergestellt wird, dass markanter Daten ausgiebig gedacht wird, sobald sie ein Alter erreicht haben, dem unser nummerisches System eine hinreichende Anzahl an Nullen zugedacht hat. (100 oder 1000 eignen sich dazu hervorragend, 500 ist auch nicht schlecht, zur Not tun es aber auch andere mit 5 multiplizierbare Zahlen.)

Warum also feiern wir das Reformationsjubiläum? Um das herauszufinden, haben wir alle – denn so ganz wird an diesem ‚Ereignis‘ über ein Ereignis niemand vorbeikommen – ein ganzes Jahr Zeit. Leider? Gottseidank? (Und schon wieder schleicht sich dieses höchste Wesen in mein Schreiben …) Es könnte sich zumindest lohnen, diese Frage nach dem Warum und dem Wozu des Reformationsjubiläums in diesem Jahr zu begleiten. Nicht, dass ausgerechnet dieses Jubiläum einer besonderen Aufmerksamkeit wert wäre. Aber an seinem Beispiel lässt sich einiges lernen über das Jubiläums(un)wesen unserer Tage und damit vor allem über die Geschichtskultur, in der wir leben – und zwar indem wir sie beleben. Jedes Kollektiv hat daher nicht nur die Geschichtskultur, die sie verdient, sondern vor allem diejenige, die sie selbst macht.

 

Geschichtskultur

Mit dem Begriff der Geschichtskultur verbinden sich unterschiedliche Aspekte, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Auch wenn eine Geschichtskultur wahrlich kein unwissenschaftliches Unterfangen sein muss, zeichnet sie sich doch dadurch aus, über den engeren Kreis einer akademischen Geschichtswissenschaft hinauszugreifen, um kollektive Formen des Geschichte-Habens und Geschichte-Machens zu bezeichnen. Geschichtskultur bezeichnet mithin die Formen, wie Vergangenheit(en) in einer Gegenwart präsent sind, wie solcher Vergangenheiten gedacht und erinnert wird (oder auch gerade nicht gedacht und erinnert wird), welcher Medien man sich zur Vergegenwärtigung des Gewesenen bedient und welche Werte man schließlich mit ‚der Geschichte‘ verbindet, die man ja erst dadurch hervorbringt, dass man sich mit ihr beschäftigt. Und im Zusammenhang derjenigen Geschichtskultur, die sich die Bundesrepublik Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts leistet, lässt sich unschwer feststellen, dass die Jubiläen, die mit so großer Aufmerksamkeit bedacht werden, bereits vorbei sind, bevor sie überhaupt begonnen haben.

 

Ein Wettrennen

Ich muss gestehen, dass ich nicht exakt zu sagen vermag, seit wann sich das öffentliche Begehen von Jubiläen in diese Richtung entwickelt hat. Im Jahr 2014 und damit im Zuge des Erster-Weltkrieg-Jubiläums konnte man es aber schon überdeutlich beobachten: Nicht nur wesentliche organisatorische Vorbereitungen, sondern auch die wichtigen inhaltlichen Aussagen zu diesem historischen Jahrestag wurden bereits ein Jahr im Voraus getätigt. Florian Illies‘ Buch „1913“ umging geschickt den zu erwartenden Weltkriegshype, indem es sich einem Nicht-Jubiläum vor dem eigentlichen Jubiläum widmete. Aber noch wichtiger war Christopher Clarks voluminöse Darstellung zum Ersten Weltkrieg, die nicht nur wegen ihrer Thesen, sondern auch wegen ihres Erscheinungstermins im Jahr 2013 die Diskussion deutlich bestimmte: Alle später erschienen Darstellungen wurden wohl oder übel darauf bezogen.

Alle Teilnehmenden am Reformationsjubiläum scheinen aus diesem Umstand gelernt zu haben. Zumindest die Verlautbarungen auf dem Buchmarkt – und dort findet zumindest die inhaltliche Diskussion wesentlich statt – sind alle bereits deutlich vor dem eigentlichen Jubiläumsjahr erschienen. Wer im Jahr 2017 noch ein Buch zu Luther und zur Reformation veröffentlichen möchte, muss fürchten, unter dem Stapel der bereits erschienenen Bücher zu verschwinden. Und wer nach dem Jahr 2017 noch ein Buch zu diesem Thema zu publizieren gedenkt, muss schon außergewöhnlich mutig sein. Denn nach dem Jubiläum – also jetzt schon – wird auf absehbare Zeit niemand mehr etwas über Luther oder Reformation sehen, hören oder lesen wollen. Wie Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung vom 31. Oktober 2016 formulierte: „Wer jetzt kein Lutherbuch schreibt, der schreibt auch keines mehr.“

Auch im Fall des Reformationsjubiläums kann man feststellen, dass schon vor Jahren alle Buchverträge unterschrieben, alle Ausstellungen geplant und alle Feierlichkeiten organisiert waren. Es ist also schon alles gesagt worden, noch bevor es (kalendarisch) etwas zu sagen gab. Es geht um das Wettrennen, wer als Erte/r durch das geschichtskulturelle Ziel geht. So kursiert beispielsweise das (durchaus glaubhafte und nachvollziehbare) Gerücht, dass große Institutionen der Wissenschaftsförderung schon seit geraumer Zeit keine Anträge mehr berücksichtigen, die Stichworte wie „Reformation“ oder „Martin Luther“ enthalten, weil für solche Themen bereits mehr als genug Geld ausgegeben worden ist.

 

Reformationsjubiläumswahnsinn

Das Ende des historischen Jubilierens vor seinem kalendarischen Beginn wurde im Falle von 500 Jahren Reformation aber nochmals auf eine neue Ebene geführt. Denn von der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde gleich ein ganzes Jubiläumsjahrzehnt ausgerufen, das seit 2008 andauert und nun – endlich, endlich – auf seine Zielgerade zusteuert. Könnte es sein, dass da einige in der EKD ihren Luther nicht genau genug gelesen haben? War es denn nicht dieser Luther, der gegen die willkürliche Vermehrung von Jubeljahren durch die päpstliche Kirche gewettert hatte, weil sich damit das Pilgeraufkommen, ergo auch der ökonomische Ertrag insbesondere für die heilige Stadt Rom erheblich steigern ließen? (Man vergleiche Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Bd. 18, 255-269) Und dann ein ganzes evangelisches Jubeljahrzehnt? Sicherlich, das Ganze sollte dazu dienen, Wissen über die Reformation zu verbreiten, die christliche und lutherische Botschaft in die Welt zu tragen und damit den Glauben zu stärken – aber könnte es nicht auch sein, dass damit Kapital unterschiedlicher Art (wie es uns Pierre Bourdieu gelehrt hat: ökonomisches, politisches, kulturelles, soziales Kapital usw.) generiert werden sollte?

Genug der rhetorischen Fragen. Schon vor Beginn des Reformationsjubiläums geistert das Wort des Reformationsjubiläumswahnsinns durch die Medien (ein Hoch auf das deutsche Kompositum). Und damit ist wirklich alles gesagt, was es zu diesem Ereignis zu sagen gibt. Man könnte sich jetzt darauf kaprizieren, bis zum Reformationstag 2017 diesen Wahnsinn in all seinen Ausfaltungen zu dokumentieren. Aber das allein wäre eher doch zu fad: eine Aneinanderreihung von Oberflächlichkeiten, Fehltritten, Sonntagsreden, Skurrilitäten und Banalitäten. Lohnenswerter ist dann wohl ein Blick hinter die Kulissen, ist ein ethnologisch-verfremdendes, ein kulturhistorisches und politisches sowie ein theoretisch informiertes Fragen nach ‚der Geschichte‘ und nach der Geschichtskultur, die diesem Jubiläumsdauerrauschen zugrunde liegen und die dieses Gebaren überhaupt erst hervorbringen.

Vielleicht gelingt es dem Jubiläum zum 500. Jahrestag der Reformation tatsächlich, als das erste seiner Art in die Geschichte einzugehen, das schon vor seinem eigentlichen Beginn vollkommen totgefeiert war. Deswegen: Seien wir froh, dass dieses Jubiläum endlich vorbei ist, nun da es gerade beginnt.