Club der weitgehend unbekannten Reformator/innen (CWUR), Folge 1: Robert Barnes

Titelbild: Jeff Turner

Man wird Martin Luther kaum den Titel absprechen können, der Reformator gewesen zu sein, einfach weil er hinsichtlich Einfluss, Popularität, Breitenwirkung und Ruhm zu Lebzeiten (wie auch in seinem Nachleben) schwerlich zu übertreffen ist. Aber er war eben bei weitem nicht der einzige Reformator. Wenn also im Rahmen dieses Reformationsjubiläums schon so sehr auf Personalisierung gesetzt wird, dann kann man wenigstens das Tableau an Personen ein wenig erweitern. Zu diesem Zweck wurde der „Club der weitgehend unbekannten Reformator/innen“ (CWUR) ins Leben gerufen, eine ehrenamtlich arbeitende Vereinigung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, zumindest ein wenig von dem Scheinwerferlicht, das den Wittenberger Oberreformator schon seit Jahrhunderten anstrahlt, auf diejenigen Figuren abzulenken, die ansonsten in seinem Schatten stehen.

Darunter sind auch Personen zu finden, die erst nach ihrem Ableben zu Bekanntheit gelangt sind. Einer von ihnen ist der Engländer Robert Barnes, der gegen Ende seines Lebens (von dem er noch nicht wissen konnte, dass es sein Ende sein würde) den fatalen Fehler beging, sich zu weit in den Dunstkreis des englischen Königs Heinrich VIII. hineinbewegt zu haben. Und wie allgemein bekannt, diese Nähe ist nicht allen bekommen. Barnes wurde 1540 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, offiziell wegen Häresievorwürfen, tatsächlich aber, weil er in den Sturz seines Patrons Thomas Cromwell verwickelt war.

Dieses tragische Ende bot der protestantischen Seite die Möglichkeit, aus Barnes einen Streiter für den rechten Glauben und einen Märtyrer im Kampf für das wahre Christentum zu machen. In dieser Rolle hat er als Reformator, zumindest im deutschsprachigen Raum, erst nach seinem Tod wirklich an Bedeutung gewonnen. In einer 1540 erschienenen Flugschrift („Bekantnus des Glaubens/ Die Robertus Barns/ Der Heiligen Schrifft Doctor (inn Deudschem Lande D. Antonius genent) zu Lunden in Engelland gethan hat“) wurden seine angeblich letzten Worte überliefert. Martin Luther verfasste dazu ein Vorwort und bescherte der Schrift dadurch großen Erfolg. Die Flugschrift erlebte mindestens neun Auflagen.

Geboren wurde Barnes 1495 in Norfolk. Er absolvierte eine Laufbahn, die für einen angehenden Reformator (der noch nicht wissen konnte, dass er einmal Reformator werden würde) als durchaus typisch anzusehen ist. Neben einer Ausbildung bei den Augustinern absolvierte er auch noch ein Studium in Cambridge und Löwen, wurde schließlich 1523 zum Doktor der Theologie promoviert. 1525 hielt er dann in Cambridge eine Predigt, die ihn bis an sein Lebensende begleiten sollte, weil sie einerseits seine reformatorische Gesinnung offenbarte, ihm andererseits eine Anklage wegen Häresie einbrachte. Vor den Gefahren, die ihm in England drohten, floh er auf den Kontinent, hielt sich auch längere Zeit in Wittenberg auf, lernte unter anderem Luther und Melanchthon kennen, verfasste theologische Abhandlungen und wurde schließlich Nutznießer des Umstands, dass Heinrich VIII. von England inzwischen zumindest die politisch-dynastischen Vorteile einer Reformation für sich und seine Monarchie zu schätzen wusste (wenn er auch von den theologischen Aspekten nicht wirklich überzeugt war). Aufgrund seiner Verbindungen zur protestantischen Szene in Deutschland wurde Barnes von Heinrich mit diplomatischen Aufgaben betraut – bis der Stern seines Patrons Thomas Cromwell am englischen Hof zu sinken begann.

Wer dann ein rechter Märtyrer werden will [1], der muss schon ein entsprechendes Vermächtnis hinterlassen, der muss, wie Barnes, gelassen zum Scheiterhaufen schreiten, die Umstehenden trösten und „sich mit so grosser freude zu seiner marter“ begeben, „das er auch kein mal sein farbe wandelte“, wie es in der „Bekantnus des Glaubens“ heißt [2]. Ansonsten stellte Barnes in seinen famous last words sicher (beziehungsweise wurde für ihn sichergestellt), dass die reformatorische Gesinnung im lutherischen Sinn noch einmal deutlich zum Ausdruck kam [3]. Liest man die in der Flugschrift enthaltene Beschreibung der Hinrichtungsszene, kommt man kaum umhin, an eine Theateraufführung zu denken. Alle notwendigen dramatischen Elemente sind hier enthalten. Barnes selbst hält eine ergreifende Rede, wird von Umstehenden angesprochen und bezüglich seiner religiösen Überzeugungen befragt, spricht mit dem Henker, wendet sich an seine (abwesenden) Gegner, um ihnen zu verzeihen, informiert sich über den (nicht existierenden) Urteilsspruch gegen ihn und fügt sich schließlich in einer Szene, die jedem Finale einer Märtyrertragödie würdig ist, dem Unabwendbaren: Er gibt „sich mit gantzem begirde nach dem fewr/ und kerte das angesichte zu dem dampffe und Fewr/ und erstickte inn kurtzer zeit.“ Und damit konnte es beginnen, das Leben eines Reformators, das vor allem darin bestand, das Nachleben eines Märtyrers der Reformation zu sein.

 

Anmerkungen

NB: Die Arbeit des „Clubs der weitgehend unbekannten Reformator/innen“ wird maßgeblich unterstützt durch das empfehlenswerte Buch von Irene Dingel/Volker Leppin (Hg.): Das Reformatorenlexikon, 2. Aufl. Darmstadt 2016. Dort ist auch der Beitrag von Katharina Beiergrößlein zu finden über Robert Barnes, dem der vorliegende Eintrag wesentliche Informationen zu verdanken hat.

[1] Peter Burschel: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der Frühen Neuzeit, München 2004

[2] Der Text des „Bekantnus des Glaubens“ ist unter anderem hier zu finden. http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11006953_00001.html

[3] Korey D. Maas: Confession, Contention, and Confusion: The Last Words of Robert Barnes and the Shaping of Theological Identity, in: Sixteenth Century Journal 42 (2011) 689-707

LuttaDada 1

Was ist das LuttaDada? Das LuttaDada kommt in vielerlei Gestalt daher. Es passt sich amöbig den Verhältnissen und Gegebenheiten und Erfordernissen an. Das LuttaDada ist immer und überall. Das LuttaDada ist immer da (und immer dada) und trotzdem nie zu greifen.

So schillert das LuttaDada in allerlei Farben. Auch im Münsterland! Denn das Martin – jawohl, man ist mit dem LuttaDada zuweilen schon so vertraut, dass man es beim Vornamen anspricht –, also dieses Martin ist im Münsterland nicht einfach nur ein Mensch. Nein, es ist Plastik, es ist 2,50 Meter groß, es wiegt 50 Kilogramm, und es erscheint in weißer Gestalt. Aber das Schönste: Es kann von innen leuchten! Das LuttaDada wird bunt! Man darf damit auch spielen, sprachen die Münsteraner LuttaDadaisten, man darf es bemalen, ankleiden, mit Zetteln behängen … Einige PapistenDadaisten wollten wohl nicht spielen. Sie schmissen das weiße große LuttaDada einfach in den nächstgelegenen Vorgarten. Auch keine Lösung!

Was aber ein lebensfroher Reformator ist – und nicht anders wollen wir unser LutterDada sehen –, das lässt noch viele weitere Blüten in einem bunten Strauß hübscher Ideen blühen. So schreit der Kraftakt der Reformation geradezu nach einem nicht minder kräftigen Schluck aus einem Krug Luther-Halbe. Jawohl, in Deutschland trinkt ein LuttaDada Bier! Es muss sogar viel Bier trinken, denn für das LuttaDada wird eifrig gebraut. Nicht nur in Amberg! Und was der Amberger kann, das kann der Ulmer allemal. Dort kann man sogar saufen für den guten Zweck. Martin-Luther-Bier, mehr Stammwürze, nur 500 Kästen, jetzt oder nie! Der Erlös geht an die Ärmsten der Armen: an die Ulmer Luther-Gemeinde.

Kaum wieder ernüchtert, muss das LuttaDada – durchaus missvergnügt – zur Kenntnis nehmen, dass in sich in diesem Land inzwischen einige Menschen erfrechen, in der Gewandung des LuttaDada aufzutreten, ja, sich sogar als das LuttaDada selbst auszugeben. Wir werden von einem Imitat imitiert! Die Wahl zum Mister Luther für das Lutherjahr 2016/17 hat der so bezeichnete „Berufsluther“ Bernhard Naumann gewonnen. Auserkoren vom ehrwürdigen Stadtmarketing Wittenberg. Naumann fällt nun das schwere Amt zu, dem unvergleichlichen LuttaDada für die kommenden Monate Gestalt und Gesicht und Stimme zu geben. Dazu: Glückauf! Ihm zur Seite gestellt wurde eine LuttaDada-Gattin. Wie passend. Aber auch sie selbstredend: ein Imitat.

Das LuttaDada will es nicht verabsäumen, die wichtigsten Veranstaltungshinweise für die kommenden Monate mitzuteilen. Dieses Mal: Südharz! Was das LuttaDada allein dort alles auf die Beine stellt: Essen wie bei Luthers! Luthers Freunde zu Gast im Südharz (auch mit Essen)! Ein nicht ganz historischer Besuch Martin Luthers (gibt’s da Essbares?)! Einweihung des Luther-Zimmers in Wülfingerode (da muss aber gegessen werden)! Poesie und Reformation in Liebenrode (mit Geplauder und mit Abendbrot)! Harzblick Wandermarathon (offenbar reformationsfrei; Essen selbst mitbringen)!

Und was ein wahres und großes LuttaDada ist, das fährt nicht mehr in ollen Karossen über Land (auch nicht in den Südharz), nein, das braust in einem Hochgeschwindigkeits-ICE der vierten Generation durchs Gelände, so dass es von niemandem gesehen werden kann, aber auch selbst nichts mehr sieht. Das ist von außen gar kein Zug mehr, das ist eine weiße Linie, die durch die Geographie schießt. Und von innen ist’s keine Landschaft mehr, sondern huschende grün-graue Fläche, die vorbeifliegt. Vielleicht geht so ja auch das ganze Jubilieren schneller vorbei? Wohl kaum. Denn irgendwann wird auch dieser ICE auf freier Strecke ungewollt zum Halten kommen. Störungen im Betriebsablauf. Dann steht er da und kann nicht anders.

Aber dann kann das LuttaDada in seinen Überseereisekoffer greifen und eine der revidierten Bibelausgaben herausziehen, eingehüllt in einen von Prominenten unnachahmlich gestalteten und in einer einmaligen Edition erhältlichen Bibelschuber. Ins Werk gesetzt von ausgewiesenen Anhängern des LuttaDada, von wahren Bibelexperten, von echten Designgrößen: Jürgen Klopp! Uschi Glas! Harald Glööckler! Und anderen Unbekannten! Für 39,99 Euro! Ist das nicht großartig, ist das nicht wunderschön? – Nein, wohl eher nicht.

Lang lebe das LuttaDada!

 

Nachweise: Luther unter den Bögen (Westfälische Nachrichten, 25.10.2016); Statue von Martin Luther in fremden Vorgarten geschleppt (Neue Osnabrücker Zeitung, 31.10.2016); Eine Halbe für Martin Luther (Onetz, 28.09.2016); Brauerei Gold Ochsen: Fassanstich mit Martin-Luther-Bier (aboutdrinks.de, 24.10.2016); Lutherpaar 2017 (Mitteldeutsche Zeitung, 30.10.2016); 12 Schritte zum Reformationsjubiläum (Neue Nordhäuser Zeitung, 25.10.2016); Ein ICE namens Martin Luther (deutschebahn.com); Prominente und die Lutherbibel (Deutsche Bibelgesellschaft)

Verlebendigung. Zweite These zur Geschichtskultur

Echt tot? Gemälde aus der Cranach-Werkstatt nach einer Zeichnung von Lukas Furtenagel 1564 (Titelfoto von Perledarte)

Die zweite These zur Geschichtskultur lautet: Unsere Geschichtskultur setzt auf Verlebendigung und ist personenfixiert.

Diese These lässt sich durch einen recht schlichten Hinweis belegen. Es sei daran erinnert: Wir haben es derzeit mit einem Reformationsjubiläum zu tun, nicht mit einem Lutherjubiläum. Warum wird dann aber deutlich intensiver über die Person Luthers berichtet als über den wesentlich komplexeren Vorgang der Reformation? Möglicherweise genau deswegen: weil diese Reformation so komplex ist? Und weshalb wird auch bei Luther – und zwar durchaus traditionell – viel eher über Persönliches berichtet (sein Charakter, seine Ehe, seine Essgewohnheiten …) oder Mitteilung gemacht von besonderen Ereignissen in[1] Lyndal Roper: Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012

seiner Biographie (Blitzeinschlag! Thesenanschlag! Widerrufsausschlag!) als über das, was seine historische Wirkung tatsächlich ausmachte: seine Theologie? Luthers Lebenslauf und Lebensweise scheinen uns aufgrund einer vertrauten Fremdheit recht nah zu sein. Für seine theologische Gedankenwelt scheint das nicht im gleichen Maß zu gelten. Deshalb sind Kenntnisse über den einen oder anderen zur Legende mutierten Schwank aus seinem Leben quizfragenfähiges Informationsallgemeingut geworden, während man die Inhalte seines Glaubens mit eher größerem Wortaufwand erläutern müsste – und vor allem erläutern müsste, warum diese Theologie zeitgenössisch so ungeheuer wirksam werden konnte.

Verlebendigung als Selbstzweck

Wäre es möglich, dass genau hier der Grund für die Personenfixierung im aktuellen Jubiläumsgeschehen auszumachen ist? Die Inhalte der Reformation sind uns mit einem halben Jahrtausend Abstand so fremd und so erläuterungsbedürftig geworden, dass ein Ausweichen auf den großen Mann als Vertreter derjenigen menschlichen Gattung, die angeblich irgendwann einmal Geschichte gemacht haben soll, durchaus nahezuliegen scheint.

Aber diese Vermutung ist deswegen nicht ganz überzeugend, weil auch bei anderen Jubiläumsbegängnissen ähnliche biographische Fixierungen festzustellen sind. Auch bei den ansonsten häufig im Zentrum stehenden militärischen Auseinandersetzungen, insbesondere Weltkrieg I und II, ist zu beobachten, dass es wesentlich offensichtlicher zu sein scheint, über zentrale Figuren zu sprechen (der große Unnennbare soll hier ungenannt bleiben) als über verwickelte militärische Vorgänge. Die Kenntnisse über die angeblich oder tatsächlich entscheidenden Personen dürften deutlich weiter verbreitet sein als diejenigen über den wechselnden Verlauf von Frontlinien oder die Organisation einzelner Feldzüge. Der Grund für diese Konzentration auf die Handelnden anstatt auf deren Handlungen oder Gedanken in der aktuellen Geschichtskultur scheint leicht auszumachen zu sein, weil sowohl theologische Argumentationen als auch militärische Aktionen oder überhaupt größere Zusammenhänge recht schnell zu komplex oder auch zu abstrakt geraten, um leichthin erfasst werden zu können. Demgegenüber ist der Zugang über die Lebensgeschichte einer Person zunächst wesentlich einfacher, da Gegenstand und Rezeptionsgemeinde zumindest eine wesentliche Gemeinsamkeit teilen, nämlich ein Leben zu leben.

Die Antwort auf das eingangs gestellte Problem steckt also schon in der Frage selbst: Der Zweck der Personalisierung und Verlebendigung innerhalb der Geschichtskultur ist eben, dasjenige zu verlebendigen und zu personalisieren, was wir gemeinhin als ‚die Geschichte‘ bezeichnen und was uns in seiner monumentalen Übermächtigkeit derart zu überragen scheint, dass wir ihm nicht zuletzt auf dem Weg konkreter Lebensgeschichten von konkreten Menschen nahezukommen versuchen. Und warum nicht: Wo kämen wir hin, wenn wir darauf verzichten wollten, persönliche Geschichten über ‚die Geschichte‘ zu erzählen? Wahrscheinlich in eine Form der Struktur- und Sozialgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar akademisch sehr erfolgreich war, aber zugleich einen tiefen Graben zum nicht-akademischen Publikum geschaufelt hat. Daher hat der verlebendigende Zugang ohne Frage einigen Charme. Biographien werden inzwischen ja nicht nur über Menschen erzählt, sondern auch über Städte, Flüsse, Ideen, Gott und den Teufel. Alles lässt sich in den Rahmen einer Lebensgeschichte einfügen.

Wittenberg als Wandtapete

Anlässlich des Reformationsjubiläums haben wir es aber noch mit ganz anderen Formen der Verlebendigung zu tun. Abgesehen von den üblichen Spielfilmen und Fernsehdokumentationen, in denen Luther Wiederauferstehung feiert, wurden wir in jüngster Zeit durch weitere Formen beglückt, die uns Luther möglichst konkret vor Augen führen sollten.

Da ist zum einen das 360 Grad-Reformationspanorama in Wittenberg, das unter der Leitung von Yadegir Asisi entstanden ist und das die Zeit des frühen 16. Jahrhunderts wieder ‚lebendig‘ machen soll. Es reiht sich nahtlos ein in die Tradition der Panoramabilder, die im 19. Jahrhundert zu einem Massenmedium wurden und die ferne Wirklichkeiten oder vergangene Zeiten in das Leben des städtischen Bürgertums holen sollten – beziehungsweise diese Städter in exotische Gegenden oder glorreiche Historien ‚hineinversetzen‘ wollten. Mittels technischer Möglichkeiten ging und geht es also darum, eigentlich unüberwindliche Distanzen von Zeit und Raum verschwinden zu lassen.

Dann ist da zum anderen die digitale Rekonstruktion des lutherischen Charakterkopfes in 3D, erstellt aufgrund der angeblichen Totenmaske. Dieser Digitalkopf dreht sich in einem kurzen Video der Betrachterin zu und schlägt dann auch noch die Augen auf, um sie anzublicken. Nicht genug also, dass Luther zu den meist portraitierten Menschen seiner Zeit mit mehreren hundert Verbildlichungen gehört, inzwischen wird ihm – ähnlich wie dem Ötzi – eine Form der ‚Rekonstruktion‘ zuteil, die uns den Reformator vor Augen stellen soll. Und das ausgerechnet aufgrund einer Totenmaske, von der man sich eigentlich nur sicher sein kann, dass sie nicht von Luther stammt. [1]

Vom Jetzt ins Früher

Abgesehen davon, dass man es technisch kann, gibt es einen weitergehenden Erkenntniswert solcher Verlebendigungen? Rückt uns Luther näher, wenn wir ihn in all der Übergewichtigkeit seiner letzten Lebensjahre vor uns sehen? [2] Können wir uns in die Zeit der Reformation ‚hineinversetzen‘, um diese höchst problematische Vokabel zu verwenden, wenn wir uns via Fototapete durch das Wittenberg des 16. Jahrhunderts bewegen?

Was daran so problematisch anmuten muss, ist die Erzeugung einer nahezu magischen Illusion, der Vorstellung nämlich, der Unterschied zwischen Jetzt und Früher ließe sich unproblematisch auflösen. Nichts anderes soll die Verlebendigung bewerkstelligen: so zu tun, als sei die Vergangenheit auf unmittelbare Weise wieder gegenwärtig zu machen. Eigentlich ein im höchsten Maße ‚vormodernes‘ Verfahren, zumindest wenn man mit diesen problematischen Kategorien des ‚Modernen‘ und des ‚Vormodernen‘ umgehen möchte. Warum eine solche Unterscheidung schwierig sein könnte, macht die verlebendigende Geschichtskultur selbst deutlich: Weil ‚wir Modernen‘ mit einem ‚vormodernen‘ Ansatz operieren und die Unterschiede zwischen den Zeiten verschwinden lassen. ‚Modern‘ wäre dann vor allem die technische Umsetzung – aber der Inhalt mutet nahezu archaisch an.

Auf Umwegen gelänge es uns dann doch, eine Gemeinsamkeit und Verbindung zu Martin Luther und seiner Zeit (oder besser: seinen Zeiten) herzustellen. Denn hatte er nicht mit den medial-technischen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, ähnliches vor? Wollte nicht auch er die Kirche ‚re-formieren‘, also in eine Form zurückführen, die sie angeblich bei den ersten Gemeindegründungen des Urchristentums schon einmal besessen hatte und wie sie in den Worten des Neuen Testaments überliefert war? War die Bibel nicht sein Breitleinwandpanorama und waren die Briefe des Apostel Paulus für ihn nicht so lebendig, dass er sie unmittelbar auf seine Gegenwart beziehen konnte?

 

Anmerkungen

[1] Jochen Birkenmeier: Luthers Totenmaske? Zum musealen Umgang mit einem zweifelhaften Exponat, in: Luther-Jahrbuch 78 (2011) 143-189

[2] Lyndal Roper: Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012