Kondom-Postille

Wenn Kirchen und Kondome kollidieren, lässt der Skandal nicht lange auf sich warten. Das gilt auch noch im Jahr 2017.

Es muss wohl am Wochenende des 11./12. März dieses Jahres gewesen sein, als die Düsseldorfer Jugendkirche Kondome an Jugendeinrichtungen verteilte, und zwar mit – wie es in der Formulierung des Evangelischen Pressedienstes (epd) hieß – „provokanten Sprüchen“. Zu lesen war auf den Kondomverpackungen unter anderem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, „Für Huren und Heilige“, „Schrei vor Erlösung“ oder „Nageln bis der Papst kommt“.

Nun, wahrscheinlich hätte von dieser Verteilaktion kaum jemand etwas mitbekommen, außer denjenigen, welche die Idee dazu hatten, den Jugendlichen, welche die Kondome benutzt hätten und den Spermien, die in ihrem natürlichen Verteilungsdrang aufgehalten worden wären, wenn, ja, wenn nicht die Evangelische Kirche im Rheinland die Aktion unterbunden und bereits ausgeteilte Kondome wieder eingesammelt hätte.

Die rheinische Landesjugendpfarrerin Simone Enthöfer begründete in einem Schreiben das Verbot damit, dass die Luther-Aussagen aus ihrem historischen und inhaltlichen Zusammenhang gerissen worden seien und in der vorliegenden Kondomverpackungsform sexistisch und verletzend wirken könnten. Klaus Eberl, Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche im Rheinland, hat sich sogar mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit gewandt, um zu erläutern, „was da nicht geht“. Die Jugenddelegierten der Evangelischen Kirche in Deutschland haben ihrerseits in einem offenen Brief auf Facebook auf das Verbot reagiert.

Wichtigstes Argument zur Verhütung der weiteren Verteilung der Verhütungsmittel ist die Achtsamkeit gegenüber denjenigen Mädchen und Frauen, die als Opfer sexueller Gewalt solche Sprüche auf Kondomverpackungen nicht nur witzig finden können. Damit ist ein wichtiger Punkt benannt, weil mit diesem Thema wahrlich nicht zu spaßen ist. Trotzdem hinterlässt das Kondomverbot den Eindruck einer gewissen doppelmoralischen Scheinheiligkeit. Wäre denn die Aufregung ähnlich groß gewesen, wenn es sich nicht um Luthersprüche beziehungsweise Lutheranspielungen gehandelt hätte? Hätten die Kirchenoberen ähnlich empfindlich und vor allem öffentlichkeitswirksam reagiert, wenn auf den Verpackungen ein paar andere, nicht lutheraffine Sprachpreziosen zu lesen gewesen wären? Wäre die Aufregung geringer ausgefallen, wenn es nicht der Heilige Martin der Evangelischen Kirche gewesen wäre, der hier als Sprücheklopfer herhalten musste? Und könnten die Opfer sexueller Gewalt möglicherweise insofern nur ein vorgeschobenes Argument gewesen sein, als diese sich bei jeder Form von sexuellen Anspielungen zumindest unangenehm berührt (wenn nicht Schlimmeres) fühlen müssen, Kondome also in jedem Fall für solche Aktionen ausfallen müssen, ganz gleich, welche Sprüche sich darauf befinden? Und wieso hat die Evangelische Kirche zwar Probleme damit, aus dem Zusammenhang gerissene Lutheranspielungen auf Kondomverpackungen drucken zu lassen, wenn sie doch selbst solche Textfragmente auf T-Shirts, Babystrampler, Aufkleber, Bonbontüten, Kaffeetassen oder Regenponchos aufbringt und zu wohlfeilen Preisen im eigenen Reformationsjubiläumsshop anbietet? Wie muss zum Beispiel der auf Socken gedruckte Spruch, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, auf Menschen wirken, die im Rollstuhl sitzen?

Wenn Klaus Eberl in seiner Videobotschaft sagt, „Gewalt und Sex gehen für uns nicht zusammen, auch nicht in der Sprache“, dann kann man diese Aussage nur unterschreiben. Gleichzeitig hat die Evangelische Kirche aber weniger Probleme damit, Kommerz und Jubiläum zusammenzubringen und Kleidung, überflüssige Accessoires oder Nahrungsmittel zu verkaufen, bei denen vielleicht noch zu klären wäre, wo sie unter welchen Bedingungen produziert worden sind und ob hier nicht möglicherweise eine bedenkliche Form kapitalistischer Ausbeutung vorliegt. Und selbst wenn sie in der Stadtteilwerkstatt um die Ecke hergestellt worden sein sollten, stellt sich immer noch die Frage, weshalb man mit Luthers Sprache zwar Geld verdienen, aber keinen Sex haben darf.

Das Kondomverbot führt uns also einmal mehr an die Wurzel des Problems, das man mit diesem Reformationsjubiläum haben kann. Ich finde es verständlich und nachvollziehbar, dass nicht alle von flotten Witzen auf Kondomverpackungen amüsiert sind. Ich finde es auch nicht grundsätzlich verwerflich, Schlüsselanhänger oder Picknickdecken mit Lutherrosen zu verkaufen. Die Schwierigkeiten entstehen im einen wie im anderen Fall, wenn man versucht, 500 Jahre alte Inhalte ohne Umschweife in die Gegenwart zu transferieren. Dann zeigt sich nämlich entweder, dass man die Reformation zwar so lange weichspülen kann, bis sich damit auch Frühstücksbrettchen unter die Leute bringen lassen – oder dass dieses Geschehen, in einen anderen Zusammenhang gestellt, seine ganze Unerbittlichkeit und auch Gewaltsamkeit offenbart. Es wäre wohl angebracht, wenn historische Geschehnisse nicht zur Spielwiese unbedarfter Aktualisierungen würden, weder bei Kondomen noch im Online-Shop. Doch beim Reformationsjubiläum 2017 muss man schon länger den Eindruck haben, dass es für eine solche Einsicht bereits zu spät ist.

Erasmus-Postille

Titelbild: Babak Fakhamzadeh

Erasmus von Rotterdam und Martin Luther waren sich nicht grün. Als überragende Gestalt der europäischen Gelehrtengemeinschaft war Erasmus einst auch von Luther bewundert worden; Erasmus seinerseits hatte die Kritik des jungen Augustinermönchs an den Praktiken der Papstkirche zur Kenntnis genommen, die seinen eigenen Auffassungen entsprochen haben dürfte. Aber mit der römischen Kirche wollte Erasmus nicht brechen. Und wer sich nicht auf die Seite des Wittenberger Reformators stellte, war in der akuten Gefahr, eines Morgens als dessen Feind zu erwachen. Auch der unumstrittene Humanistenstar des frühen 16. Jahrhunderts war davor nicht gefeit. Öffentlichkeitswirksam vollzogen wurde der Bruch 1524. Erasmus veröffentlichte in diesem Jahr seine Abhandlung über den freien Willen (De libero arbitrio), in der er die freie Entscheidungsmöglichkeit des Menschen zwischen dem Guten und dem Bösen für ein Geschenk Gottes hielt. Martin Luther antwortete ein Jahr später mit einer Schrift über den geknechteten Willen (De servo arbitrio). Darin argumentiert er, der Mensch besitze keinen freien Willen im umfänglichen Sinn, weil er sich beispielsweise nicht dafür oder dagegen entscheiden könne, der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden. Diese Gnade sei ihm immer bereits schon von Gott geschenkt worden – und nun müsse das sündhafte Wesen mit diesem unverdienten Geschenk zurechtkommen. Der menschliche Wille erschien Luther eher wie ein Pferd, wie er schrieb, das vom Teufel geritten und von Gott gelenkt wurde. Keinen von beiden wurde der Mensch wieder los. Es war nur die Frage, wer die Oberhand behielt.

Erasmus und Luther sind sich nie persönlich begegnet. Ob ein solches Treffen von zwei der bekanntesten Männer des damaligen Europa irgendeinen Mehrwert gehabt hätte, werden wir nie erfahren. Erasmus und die „Alternative für Deutschland“ sind sich auch nie begegnet. Auf den Mehrwert eines solchen fiktiven Treffens wäre ich allerdings gespannt gewesen. Was wäre wohl geschehen, wenn jemand wie Erasmus, der die Europäizität Europas gar nicht erst groß propagieren musste, sondern sie einfach selbstverständlich gelebt hat, auf die Mitglieder einer stinknormalen, etablierten Gruppierung von Politiker/innen gestoßen wäre, die sich nicht nur verkrampft von ‚den Etablierten‘ abzusetzen versuchen, sondern das Gegenteil dessen verkörpern, was am Europäischen vorbildlich sein könnte? Nun, in einer solchen Situation hätte Erasmus zumindest Einspruch erheben können, dass sein Name für eine parteinahe Stiftung der AfD missbraucht wird. Nun ist Erasmus leider tot und kann sein Nicht-Einverständnis leider nicht mehr artikulieren.

Nach verschiedenen Anläufen ist der AfD also etwas gelungen, was einem als etablierte Partei, die ständig gegen etablierte Parteien wettert, eigentlich gar nicht gelingen sollte, sich nämlich genauso zu benehmen, wie alle anderen (nicht, dass das gänzlich neu wäre …). Die Desiderius-Erasmus-Stiftung ist am 10. Dezember in Frankfurt a.M. gegründet worden. Sie soll sich vornehmlich aus staatlichen Zuschüssen finanzieren, wie bei anderen etablierten Parteien eben auch. Auch Spenden sind möglich, steuerlich abzugsfähig. Solche Modelle hat die AfD immer wieder angeprangert, solange es ihr Stimmen brachte. Aber nun ist sie wahrscheinlich Opfer des lutherischen geknechteten Willens geworden und kann sich gar nicht mehr entscheiden, für oder gegen die staatliche Gnade der Parteienfinanzierung zu sein, sondern nimmt sie einfach nur noch demütig hin.

Der wirkliche Skandal aber lauert an anderer Stelle: im Namen. Es ist nicht die mögliche namensrechtliche Kollision mit dem Erasmus-Programm der Europäischen Union, sondern der Missbrauch eines Vorzeigeeuropäers – Entschuldigung, aber diese abgedroschene Floskel ist für kaum jemanden so passend wie für Erasmus von Rotterdam – durch eine Partei, die sich Fremdenfeindlichkeit, Anti-Europäismus, Anti-Intellektualismus und Weltverschlossenheit auf die Fahnen geschrieben hat (und die vor gefühlten Urzeiten einmal mit dem wesentlichen Programmpunkt angetreten ist, die Euro-Währung wieder abzuschaffen). Da könnte sich Die Linke auch Donald Trump zum Vorsitzenden wählen oder die CSU Karl Marx zum Parteiphilosophen ausrufen. Man möchte geradezu mit Tony Buddenbrook fragend aufstampfen: „… daß dieses Geschmeiß sich erfrecht, der Sache die Krone aufzusetzen?“ [1]

Aber wirklich verwundern kann es eigentlich kaum. Vorsitzender der Stiftung ist schließlich Konrad Adam, ein der Geschichtsklitterung bereits einschlägig vorbestrafter Zeitgenosse. Da fügen sich die Dinge. Da kann man auch einmal den Namen eines echten Europäers für ein dezidiert antieuropäisches Programm missbrauchen. Kann sich ja nicht mehr wehren.

Und wer weiß, vielleicht haben ja Luthers Ideen vom unfreien Willen, die ich ansonsten für wenig vorbildlich halte, doch einen gewissen Grad an Plausibilität. Zumindest kann man im Falle eines gewissen Bekanntheitsgrades nach dem eigenen Ableben und dem damit einhergehenden Verfall von Persönlichkeitsrechten nicht mehr frei darüber entscheiden, wer oder was den eigenen Namen als Feigenblatt für noch so perfide Inhalte in Anspruch nimmt. Aber wenn Luther in gewisser Weise recht gehabt haben sollte, dann stellt sich auch die Anschlussfrage, von wem das AfD-Pferd denn nun geritten wird – von Gott oder vom Teufel?

Desiderius ist der zusätzliche Vorname, den sich Erasmus selbst gab. Das bedeutet ‚der Ersehnte‘ oder ‚der Erwünschte‘. Vielleicht hat sich der unehelich geborene und damit im Verständnis des 16. Jahrhunderts auch ehrlose Erasmus, dieser lange Ausgegrenzte und im positiven Sinn Vaterlandslose zuweilen gewünscht, ersehnter und erwünschter zu sein. Vielleicht würde er sich heute, wenn er einen Wunsch frei hätte, danach sehnen, nicht permanent für den einen oder anderen politischen Zweck als Namensgeber missbraucht zu werden. Und alle anderen dürfen sich wünschen, sich zumindest ein Stückweit an seinem Vorbild orientieren zu können, indem sie sich dem Menschlichen in seiner Allgemeinheit und seiner Vielheit zuwenden, selbst wenn es unehelich, ausgestoßen und heimatlos daherkommt.

Ich möchte aber ungebührliche Spekulationen über die Person des Erasmus beiseitelassen und ihm lieber selbst das Wort geben. Denn wie diejenigen einzuschätzen sind, die besser sein wollen als alle anderen, um sich schlussendlich wie alle anderen zu benehmen, hat er in seinem „Lob der Torheit“ formuliert. Dabei hat er es auch nicht unterlassen, auf paradoxe Weise die Torheit über sich selbst sprechen zu lassen, so dass man sich beständig fragen kann und muss, ob diese Äußerungen nun besonders zutreffend oder außergewöhnlich närrisch sind:

„Wie nichts dümmer als übertriebene Weisheit, so nichts unklüger als überspannte Klugheit; und überspannt klug ist doch einer, der sich den Tatsachen nicht anpaßt, nichts nach dem Kurs fragt, ja nicht einmal an das alte Trinkgesetz denkt, das da heißt: »Sauf oder lauf!«, und verlangt, daß Komödie nicht Komödie sei. Wer wahrhaft klug sein will, der sage sich: Du bist ein Mensch; drum begehre nicht mehr zu wissen, als dir beschieden, und mach‘s wie die andern – die drücken lachend ein Auge zu oder lassen sich gutmütig über den Löffel balbieren. ‚Gerade das aber‘, sagt man, ‚ist Torenmanier!‘ Ich bestreite es nicht; nur soll man mir zugeben, daß sich so und nicht anders die Lebenskomödie spielt.“ [2]

 

Anmerkungen

[1] Thomas Mann, Die Buddenbrooks, Verfall einer Familie (Gesammelte Werke, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1990, 552.

[2] Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, hg.v. Werner Welzig, 3. Aufl. Darmstadt 2006, 65

Falk-Postille

Man kann aus Martin Luther einen Freiheitshelden machen. Muss man aber nicht. Man kann die ‚Botschaft‘ der Reformation (wie lautete sie gleich noch?) in das Korsett standardisierter Musicalmelodien packen. Man muss sich das aber nicht anhören. Man kann die geistliche Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts in ein fahrstuhltaugliches Funktionsmusikgeriesel verwandeln. Man muss dafür aber kein Geld ausgeben.

Es gibt einen Mann, der all das nicht nur kann, sondern der wohl auch davon überzeugt ist, dass man es sollte. Man tut Dieter Falk wohl nicht unrecht, wenn man ihn als Überzeugungstäter charakterisiert. Er scheint überzeugt von der Verbreitung der christlichen Botschaft mittels massentauglicher Melodien, und er scheint überzeugt von den popmusikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der 1970er und 1980er Jahre, die er in das frühe 21. Jahrhundert hinübergerettet hat.

Wer ist Dieter Falk? Ihn als Größe im Bereich der deutschen Popmusik zu bezeichnen, ist kaum übertrieben, auch wenn man den Namen noch nie gehört haben sollte. Er wirkt eher im Hintergrund als Mann an verschiedenen Tasteninstrumenten und als Produzent. Die größten Erfolge feierte er als Verantwortlicher für die Aufnahmen der Band Pur – und wenn man das zweifelhafte Vergnügen gehabt sollte, deren Musik schon einmal gehört zu haben (was sich irgendwann in den 1990er Jahren nicht so richtig vermeiden ließ), dann hat man auch schon einiges von den musikalischen Vorlieben Dieter Falks begriffen.

Nun zu behaupten, Dieter Falk hätte die Marke Luther aktuell als Geschäftsmodell für sich entdeckt, ist nur die halbe Wahrheit. Er ist, wie gesagt, Überzeugungstäter, war bereits in den 1980ern bei Aufführungen und Aufnahmen christlicher Popmusik beteiligt. Das Einlassen auf und die Auslassungen zu Luther kommen also nicht von ungefähr. Falk ist nicht jemand, der es sich leichtmacht und auf den aktuellen Trend des Reformationsjubiläums aufspringt. In seinem Fall handelt es sich die konsequente Fortsetzung jahrzehntelanger Arbeit.

Angefangen von der musikalischen Sozialisation im Kirchenchor über die Produktion zahlreicher Schallplatten im Bereich christlicher Popmusik bis zur Aufführung von Musicals, deren Titel den Hauch von Hollywood-Filmproduktionen der 1950er Jahre atmen (Die 10 Gebote! Moses!), ist hier alles vertreten.

Und nun also Luther. Auch hier wird auf der ganzen medialen Klaviatur gespielt (… was für ein Kalauer bei einem Pianisten). Erstens gibt es eine CD „A tribute to Martin Luther“, eine Art instrumentales Jazz-Rock-Gedöns mit Bläsern und Filmorchester und viel Drumherum, begründet unter anderem mit der Aussage, Luther sei der „erste Popmusiker der Kirche gewesen“. Aber Falk bedient, zweitens, auch die Buchsparte und hat gemeinsam mit seiner Frau Angelika für die Deutsche Bibelgesellschaft den Umschlag einer Sonderausgabe der revidierten Luther-Bibel kreiert. Der dritte Beitrag zum Jubiläums-Tingeltangel ist dann aber die ganz große Show: das sogenannte Pop-Oratorium, das auf den einfallsreichen Namen „Luther“ hört. Dessen Aufführung geht dieses Jahr deutschlandweit durch etliche Hallen und Stadien Deutschlands und gibt uns die Reformation mit ihrem Hauptdarsteller als Musical-Aufführung inklusive einem mehrtausendstimmigen Laienchor. Leider klingt das, was man sich bisher anhören kann, ohne die teuren Eintrittskarten für diesen ‚Event‘ zu erstehen, genauso wie es immer klingt, wenn deutsche Chöre versuchen, auf Gospel zu machen. Redlich bemüht.

Das Pop-Oratorium „Luther“ wird uns in diesem Jahr wohl noch häufiger über den Weg laufen. Spätestens am 29. Oktober 2017 können es sich alle öffentlich-rechtlich im ZDF ansehen. Und würde man mich um meine unmaßgebliche musikalische Meinung fragen, würde ich dafür plädieren, keinesfalls mehr der eigenen Finanzmittel als die fälligen Rundfunkgebühren dafür aufzuwenden. Denn die Musik ist zum Fremdschämen schlecht (Beispiele gibt es hier) und die Texte (von Michael Kunze, der unter anderem Texte für Udo-Jürgens-Klassiker wie „Griechischer Wein“ oder „Ich war noch niemals in New York“ geschrieben hat) gehören in die Kategorie des Peinlichen.

Hätten wir ihn da nicht schon wieder, den arroganten Hochkultur-Schnösel in mir, der sich angewidert vom Leichten in der Kunst abwendet? Das mag wohl zutreffen. So wie andere bei John Cage, Pere Ubu oder Charles Mingus schreiend weglaufen, muss ich mir bei dieser Musik die Ohren zuhalten. Das wäre an sich auch kein Problem und vor allem kein Anlass, eine Postille zu verfassen. Streitereien über musikalische Vorlieben bereiten zwar viel Freude, weil man sich so schön sinnlos in Rage argumentieren kann, bleiben aber regelmäßig ergebnislos. Deswegen sollte jeder den eigenen kleinen Musik-Honecker beim Verlassen der Wohnung besser zu Hause (oder zumindest unhörbar) lassen.

Bedenklich wird die Sache, wenn es sich die ‚Macher‘ dieses Machwerks ausdrücklich auf die Fahnen schreiben, kein Interesse an einer Geschichtsstunde zu haben und nicht das 16. Jahrhundert zur Aufführung bringen zu wollen, sondern die Aktualität der Figur Luther betonen möchten: Freiheit, Widerständigkeit, Individualität und eigenständiges Denken („Selber denken“ heißt auch ein Liedtitel), darum soll es gehen, gipfelnd in der Aussage, Luther sei ein „krasser Typ“ gewesen. Der Historiker in mir könnte es sich nun natürlich leichtmachen und diese ausdrückliche Geschichtsferne an sich geißeln. Aber das hieße, die eigenen Prämissen etwas voreilig für allgemeinverbindlich zu erklären. Mit diesem typischen Beispiel für das Weichgespüle des Reformationsjubiläums, diesem goldenen Volksmusikfestival der Vergangenheit, das Massentauglichkeit auf Teufel komm raus erreichen will (und wenn der Teufel gelockt werden soll, wird es doch schon wieder recht lutherisch), muss man aber aus ganz anderen Gründen seine Probleme haben.

Ganz richtig, mir gefällt die Musik nicht. Muss sie auch nicht. Aber das Problem dieser Luther-Verwurstungen und gnadenlosen Aktualisierungen ist letztlich ein ethisches. Denn mit der blanken Zurückweisung jeden historischen Interesses und jeglichen geschichtlichen Anspruchs wird auch die Verantwortung aufgegeben, die wir für die Verstorbenen haben. Und genau das können wir nicht tun (und würden zum Beispiel auch kaum wollen, dass es die Nachlebenden mit uns tun). Es ist nämlich verantwortungslos, die einst Gewesenen als Steigbügelhalter für flotte Erkenntnisse der Gegenwart zu missbrauchen. Um die Frage zu beantworten, wie wir gegenwärtig leben wollen, brauchen wir Luther nicht. Dem Reformationsgeschehen nur ein paar Allgemeinplätze zu entnehmen, wird aber weder der Vergangenheit noch der Gegenwart gerecht. Nicht nur wird das vergangene Geschehen unzulässig verkürzt, wenn man aus Luther einen dufte Popmusiker macht, sondern auch die Gegenwart tut sich keinen Gefallen damit, in ihm einen krassen Typen zu sehen. Er war nämlich ganz nebenbei auch noch ein krasser Judenhasser, ein schräger Apokalyptiker, ein kompromissloser Dogmatiker und ein Fundamentalist reinsten Wassers. Aber ein solcher Luther wäre selbstredend wenig musicaltauglich. Wir können Luther und der Reformation und dem 16. Jahrhundert und der Vergangenheit und überhaupt den vielen Vergangenheiten nicht beikommen, indem wir die vermeintlich simple Frage stellen, was das denn alles für uns heute noch bedeutet. Die Zeiten und ihre Verhältnisse zueinander sind deutlich komplizierter.

Bett-Postille

Man kann nicht sagen, dass der japanische Künstler Tatzu Nishi den Reformator Martin Luther von seinem Sockel geholt habe. Eher im Gegenteil. Er hebt uns auf Sockel hinauf. Mit der Installation „Als dann flugs und fröhlich geschlafen (In bed with Martin Luther)“ hat Tatzu Nishi das Eisenacher Martin-Luther-Denkmal mit einem vollständigen, sehr durchschnittlichen deutschen Schlafzimmer umbaut. Und zwar auf Sockelhöhe. Man kann nun ein Gerüst ersteigen, um dieses Schlafzimmer zu betreten und die einstige Luther-Statue aktuell als Bett-Statue zu begutachten.

Ist das nun Kunst oder höherer Blödsinn? Will hier jemand den Reformator veräppeln – oder warum muss man ihn ins Bett zerren (oder korrekt formuliert: ihn mit einem Bett umstellen)?

Es mag schon sein, dass Tatzu Nishi uns nicht nur auf den Sockel heben, sondern mit seiner Installation auch auf den Arm nehmen möchte. Und das ist gut so. Denn er spielt auf sehr intelligente, weil irritierende Weise mit der Frage, wie aktuell uns dieser Luther heute noch sein kann, was uns dieser Luther gegenwärtig bedeutet und wie nahe beziehungsweise entfernt uns dieser Luther ist. Mit eben diesen Fragen von Nähe und Distanz jongliert die Sleep-In-Installation.

Es ist insbesondere das heroisierte und nationalistisch aufgeladene Luther-Bild des 19. Jahrhunderts – das Eisenacher Luther-Denkmal wurde 1895 eingeweiht –, das durch die Installation konterkariert wird. Aus dem deutschen Übermenschen wird durch die Positionierung im Bett wenn schon keine Alltagsperson, dann doch zumindest ein entsockelter Heros. Man kann dem Reformator, der ansonsten mehrere Meter über den Betrachtenden thront, ganz nahekommen, kann den Helden veralltäglichen und kann sich vielleicht sogar für einen Moment der Illusion hingeben, die historische Distanz eines halben Jahrtausends zum Reformator zu überbrücken.

Aber der Clou der Installation besteht darin, durch die Bettsituation nicht nur Nähe zu schaffen, sondern durch die übergroße Intimität des Schlafzimmers auch schon wieder Distanz herzustellen – der Eintritt in die fremde Bettstatt als Moment der Scham.

Was also bedeutet uns Luther heute? Tatzu Nishi hat diese Frage auf komplexe und durchaus widersprüchliche Weise adressiert. Einige mögen darin den ‚Untergang des Abendlandes‘ sehen, wie manche kritische Stimmen sich mit Blick auf das Kunstwerk geäußert haben sollen. Aber wenn es darum geht, nationalistisch aufgeblähte Heroen vom Sockel zu holen, dann kann dieses Abendland meines Erachtens gar nicht schnell genug untergehen.

Söder-Postille

Wie nahezu alle Teilnehmer am Medienmarkt machte auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ in der letzten Oktoberwoche, genauer in der Ausgabe vom 27. Oktober 2016, mit einem Luther-Thema auf. Waltraud Lewin ist dort mit einem Luther-Portrait vertreten, das leider einige historische Unzulänglichkeiten aufweist, und einige Prominente aus Politik, Kirche, Kultur, Wirtschaft, Journalismus und anderen einschlägigen Lebensbereichen wurden aufgefordert, möglichst knapp, um nicht zu sagen: thesenartig die Frage zu beantworten, was denn heute noch christlich sei. Und man wird nicht darauf kommen, wie viele meistens mehr und manchmal minder bekannte Menschen zum Mitmachen aufgefordert wurden bei diesem durchaus passenden Schwerpunkt des bürgerlichen Wohlfühl-Blatts – genau, es waren 95.

Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist, dass es Markus Söder, ein bisher nicht als Luther-Experte in Erscheinung getretener Politiker aus Südostdeutschland, auf Platz 1 der Thesenliste geschafft hat. Man fühlt sich auf unangenehme Weise an Kinder aus der Schulzeit erinnert, die bei jeder noch so nebensächlichen Frage der Lehrerin immer als erste den Finger erhoben und sich zu Wort meldeten, begleitet von einem lautstarken „Ich! Ich! Ich!“. Als hätten nicht alle schon längst gemerkt, dass es um nichts anderes ging als um „Ich!“ Welche Zeitung man aufschlägt und welchen Fernsehsender man einschaltet, an „Ich!“-Markus Söder kommt man nicht vorbei.

Nun hat er sich auch an die erste Stelle der Luther-Deuter und Christentums-Verantwortlichen in der „Zeit“ gearbeitet. Und was ist seine Botschaft? Man solle wieder mehr auf Luther hören, ergo den Leuten aufs Maul schauen und deutsch mit ihnen reden. Ist nur die Frage, ob er da tatsächlich von Luther spricht oder eher seine eigene politische Agenda formuliert.