Club der weitgehend unbekannten Reformator/innen (CWUR), Folge 3: Katharina Schütz

Katharina Schütz war gerade einmal 15 Jahre jünger als Martin Luther – und doch hatte bereits die als ‚Reformation‘ bezeichnete Umwälzung, die von Luther maßgeblich ausgelöst worden war, nicht nur ihr ganz persönliches Leben, sondern auch die Lebensumstände in Europa insgesamt grundlegend verändert. Am Beispiel von Katharina Schütz kann man sehen, mit welcher Rasanz angesichts der gegebenen Kommunikationsmöglichkeiten Luthers Ideen eine ganze Welt auf den Kopf stellten. Anstatt zu einer papsttreuen Christin zu werden, die von den Inhalten der katholischen Theologie aufgrund der Dominanz des Lateinischen wenig verstand, und anstatt ein übliches bürgerliches Leben zu führen, wurde Katharina Schütz nicht nur Luther-Anhängerin, sondern auch schreibende Theologin und eine der ersten Ehefrauen in einem Pfarrhaushalt. Ein Leben mithin, das in mehrfacher Hinsicht mit den zeitgenössischen Normen brach.

Katharina Schütz (1498-1562) entstammte einer Straßburger Bürgerfamilie, war das fünfte von zehn Kindern und erfuhr eine recht gute Schulausbildung, so dass sie des Lesens und Schreibens mächtig war. Latein blieb ihr als Gelehrtensprache allerdings ein Leben lang verschlossen. Schon als Kind hatte sie sich durch eine große Frömmigkeit ausgezeichnet und sich grundsätzlich darauf vorbereitet, ein Leben in Keuschheit zu verbringen.

Luthers Theologie veränderte ihr Weltbild grundlegend. Als Matthäus Zell Priester am Straßburger Münster wurde und ab 1518 im Sinne Luthers zu predigen begann, lösten sich die Ängste von Katharina Schütz um ihr Seelenheil sowie der empfundene Zwang, beständig Gutes tun zu müssen, auf und verwandelten sich in ein grundlegendes Vertrauen in einen gnädigen Gott. Aufgrund dieser Erfahrung widmete sie sich nicht nur dem Studium von Luthers Schriften, sondern setzte sich vor allem intensiv mit der Bibel auseinander. Sie erarbeitete sich differenzierte theologische Kenntnisse, die später Grundlagen ihrer Schriften werden sollten.

Bereits 1523 beging sie den nächsten Tabubruch, der in ihrer Umgebung sicherlich nicht nur gutgeheißen wurde. Sie heiratete Matthäus Zell. Die beiden gründeten einen der ersten protestantischen Pfarrhaushalte. Diese Ehe scheint wirklich eine Partnerschaft auf Augenhöhe gewesen zu sein, und Zell schätzte wohl die Fähigkeiten seiner Frau, auch theologisch Position beziehen zu können. Katharina Schütz Zell verfasste in ihrem Leben sieben Texte, von denen fünf auch gedruckt wurden. Darunter finden sich Trostschriften, Polemiken, Predigten und Meditationen.

Wie andere Frauen, die in der Reformationszeit öffentlich hervortraten oder eher unfreiwillig von anderen in das Licht der Öffentlichkeit gerückt wurden, musste sich auch Katharina Schütz Zell verschiedener Anfeindungen erwehren. Sie wurde nicht nur wegen ihrer Heirat mit einem Geistlichen, sondern auch aufgrund ihrer theologischen Äußerungen und ihres Engagements für die Straßburger Gemeinde angegriffen – und diese Angriffe erfolgten selbstverständlich, so muss man feststellen, weil sie eine Frau war. Besonders bitter dürfte es für sie gewesen sein, als sich Ludwig Rabus gegen sie wandte. Rabus war nicht nur der Nachfolger ihres Mannes im Straßburger Predigeramt, sondern auch ihr Pflegesohn. 1556 verließ er Straßburg, um einen angeseheneren Posten in Ulm anzutreten. Seine Straßburger Gemeinde fühlte sich im Stich gelassen, und die Pflegemutter übernahm die Aufgabe, sich per Brief an Rabus zu wenden und um eine Begründung für sein Verhalten zu bitten. Die Antwort war wenig freundlich und von deutlicher Misogynie gekennzeichnet: Katharina Schütz Zell sei eine Häretikerin und Abgefallene und habe ihrem Mann und der Kirche nur Schaden zugefügt.

Ähnlich wie nach ihrer Hochzeit musste sie sich auch in dieser Situation wieder rechtfertigen – und zwar als Frau. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Reformation Grundlagen gelegt hat, damit sich das Verhältnis der Geschlechter zueinander verändern konnte. Insbesondere Pfarrhaushalte werden hier regelmäßig als aussagekräftige Beispiele herangezogen, um zu belegen, dass der Frau in der Partnerschaft protestantischen Typs eine größere Verantwortung und Eigenständigkeit zuwachsen konnte. Und Katharina Schütz Zell ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Ohnehin wird im Rahmen des Reformationsjubiläums 2017 die Rolle von Frauen in großem Maß betont. Es werden alle medialen Möglichkeiten genutzt, um zu belegen, von welcher Bedeutung Argula von Grumbach, Wibrandis Rosenblatt, Elisabeth von Calenberg-Göttingen und die vielen anderen Frauen waren, die im Prozess der Reformation auf verschiedene Aufgaben übernommen hatten. Ohne Frauen keine Reformation – so lautet das nicht selten gezogene Fazit entsprechender Bemühungen.

Aber so verständlich entsprechende Thesenbildungen und Schwerpunktsetzungen aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts auch sein mögen, sie schweben immer in der latenten Gefahr, entweder trivial oder verharmlosend zu werden. Trivial wird es, weil man sich recht schnell darauf einigen kann, dass weder die Reformation noch sonst irgendetwas in der Welt der Menschen ohne Frauen möglich wäre. Verharmlosend wird es allerdings, wenn man mit 500 Jahren Verspätung so tut, als seien die Frauen gleich bedeutend, gleich einflussreich und gleichberechtigt mit den Männern gewesen. Das waren sie nicht. Wir haben der Reformation nicht die Gleichstellung der Geschlechter zu verdanken. Vielmehr hat sich in und durch die Reformation die fundamentale Ungleichheit und das auch rechtlich fixierte Machtgefälle zwischen den Geschlechtern nur ein wenig verschoben. Dass die Frau dem Mann untergeordnet blieb, daran hat sich grundsätzlich nichts geändert. Deswegen muss man auch weiterhin feststellen, dass die Reformation eine Männerangelegenheit war. Sie war aber nicht deswegen eine Männerangelegenheit, weil Frauen nicht dazu in der Lage gewesen wären, am reformatorischen Diskurs teilzunehmen – Katharina Schütz Zell beweist (gemeinsam mit zahlreichen anderen) das Gegenteil –, sondern weil sie von vornherein systematisch davon ausgeschlossen wurden. Frauen wurden von Bildungseinrichtungen ferngehalten, von politischen Ämtern und von gesellschaftlichen Positionen, die es ihnen ermöglicht hätten, auf die Reformation größeren Einfluss auszuüben. Die Gegenbeispiele können nur dazu dienen, diese Regel zu bestätigen – und müssen uns im Nachhinein umso größeren Respekt abnötigen, weil sie sich trotz dieser ausschließenden Grenzziehungen reformatorisch betätigt haben.

Wenn ich also die nicht allzu gewagte These aufstelle, dass die Reformation eine Männerangelegenheit war, dann erstens, um nicht gegenwärtige Ideale des Geschlechterverhältnisses um ein halbes Jahrtausend nach hinten zu projizieren und dadurch verfälschende Wunschbilder aufscheinen zu lassen; und zweitens, um diese Männerdominanz zu einem Ausgangspunkt kritischer historischer Befragung zu machen, die Ungleichheit nicht dadurch verdeckt, dass sie die Bedeutung von Frauen im Nachhinein möglichst groß macht, sondern viel eher die Gründe und die Formen der Ungleichheit analysiert. Es geht daher um den Verzicht auf eine nachträgliche Verbesserung der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke.

 

NB: Die Arbeit des „Clubs der weitgehend unbekannten Reformator/innen“ wird maßgeblich unterstützt durch das empfehlenswerte Buch von Irene Dingel/Volker Leppin (Hg.): Das Reformatorenlexikon, 2. Aufl. Darmstadt 2016. Dort ist auch der Beitrag von Elsie McKee zu finden über Katharina Schütz Zell, dem der vorliegende Eintrag wesentliche Informationen verdankt.

LuttaDada 5

Man mag es für möglich halten oder nicht, aber selbst ein LuttaDada muss Leib und Magen zusammenhalten. Ganz recht, das LuttaDada schmaust und speist und mampft – und zwar recht gerne, wie man anhand der leiblichen Fülle erkennen kann, die auf so vielen hundert Bildern aus der Werkstatt des CranachDada dokumentiert ist. Aber inzwischen fällt es dem LuttaDada nicht mehr leicht, zu entscheiden, was es essen soll. Es gibt nicht nur so viel, es gibt auch so viel Falsches, und zwar Falsches, das als solches nur schwer zu erkennen ist. Zum Beispiel Teigwaren. Welch köstliches Exempel menschlicher Ingeniösität! Und was kann man damit alles falsch machen.

Thomas Pforte von der Wittenberger Werbeagentur S. Pforte hatte beispielsweise die großartige Idee, das Antlitz des LuttaDada in Hartweizenteigwarenform zu bannen, um Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, dieses Produkt unter Zuhilfenahme kochenden Wassers der Bissfestigkeit zuzuführen und anschließend zu verspeisen. Ein dadaistischer Akt par excellence!

Die Gutting Pfalz-Nudel GmbH mit Sitz in Großfischlingen – wie man nicht gesondert erwähnen muss, der unangefochtene Marktführer im Segment Designnudeln – kam auf die gleiche Idee. Großartig! Eine dadaistische Parallelaktion! Oder liegt hier ein Fall von Produktklau vor? Die Wittenberger „Luther-Nudel“ und die pfälzische „Pasta Martin Luther“ sehen sich auf jeden Fall täuschend ähnlich. Es wird zu einem Rechtsstreit kommen, bei dem gänzlich undadaistisch entschieden werden soll, wer in dieser Angelegenheit Originalität für sich beanspruchen kann.

Sollte das Nudelgericht also aufgrund juristischer Differenzen vorerst ausfallen müssen, lässt sich alternativ auf die Tütensuppe zurückgreifen. Heinz Wulf und Karolina Huber aus der Schweiz hatten wohl den ganz starken Eindruck, das Reformationsjubiläum sei zu kopflastig und gerate zu intellektuell (seltsam, gerade diesen Eindruck hatte das LuttaDada bisher eigentlich nicht), es müsse vielmehr hinaus zu ‚den Menschen‘, zu denjenigen, die nicht ins Museum gehen und nicht den wissenschaftlichen Vorträgen lauschen. Wulf und Huber wollten die frohe Botschaft an alle verbreiten, Und was bietet sich da eher an als Tütensuppen!

So kann man jetzt in der Migros, der größten Supermarktkette der Schweiz, Tütensuppen käuflich erwerben, auf denen Comic-Versionen der Reformatoren Calvin, Luther und Zwingli prangen, jeweils versehen mit einem lateinischen Lehrspruch aus der sola-Reihe: sola fide, sola gratia, sola scriptura. Da kann das LuttaDada doch nur applaudieren, wenn die zentralen Aussagen Martin Luthers nun auch noch den anderen Reformatoren untergeschoben werden. Eine gewisse Kopflastigkeit täte dem Reformationsjubiläum also doch ganz gut, zumindest bevor man den falschen Personen die falschen Zitate auftütet.

Möchte man sich nach all diesen Beschwernissen des Verdauungssystems etwas Gesundes gönnen, könnte der herzhafte Biss in einen frischen Apfel das Richtige sein. Und wenn schon, dann doch gleich ein Martin-Luther-Apfel. Aber halt, nicht ganz so schnell, erst muss der Martin-Luther-Apfelbaum gepflanzt werden, wie er von der Barnimer Baumschule angeboten wird. Wen kümmert’s, dass gar nicht klar ist, ob Luther jemals den Satz von dem Apfelbäumchen und dem Weltuntergang gesagt hat, gut luttadadaistisch kann man ja trotzdem was draus machen. Und um der bedeutungsschwangeren Symbolik noch die Baumkrone aufzusetzen, sollen es auch genau 95 Bäume sein, um gebührend an die Dada-Thesen gegen den Ablass zu erinnern und reformatorische Überzeugungen auch in der Gegenwart wurzeln zu lassen. Das war dem LuttaDada gar nicht klar, dass es den Ablass immer nicht gibt und dass man immer noch gegen ihn kämpfen muss. Wie auch immer, jeder der 95 Bäume kommt mit einer von Luthers Thesen daher. Man kann sich sogar seine Lieblingsthese aussuchen! Baum plus These plus Projekt-Zertifikat kosten in der limitierten Reformationsserie 500 €.

Und was darf zum Schluss unserer kulinarischen LuttaDada-Reise nicht fehlen? Das deutscheste aller Lebensmittel, das einem bei übermäßigem Genuss auch das Leben verkürzen kann, das Bier. Lutta-Dada-Biere waren hier schon einmal Thema, nun hat auch die Gemeinde Homberg nachgelegt. „Reformator“, so heißt das Ergebnis, das nicht als Bier, sondern – gut antiquarisch – als „Gerstentrunk“ bezeichnet werden will. Wohlan!

Und warum wird im Namen des LuttaDada ein solches Gebräu hergestellt? Nun, aus dem gleichen Grund, aus dem es den ganzen anderen Dada-Nippes gibt – um das Thema der Reformation endlich einmal aus den verstaubten Büchern und den langweiligen Hörsälen herauszuholen, um es den Museen und den Spezialisten zu entreißen und endlich zu ‚den Menschen‘ zu bringen. Lasst uns über die Reformation lernen beim Tütensuppenschlürfen und Biersaufen. Das LuttaDada ist sich sicher, dass all die Seelenheilsuchenden dort draußen bei ihrem verzweifelten Umherirren, dass all die Beladenen beim Flehen um einen gerechten Gott nach der einen oder anderen Flasche „Reformator“ endlich finden werden, wonach sie so lange gesucht haben.

Bei all diesen wichtigen, ernsthaften und tiefgründigen Aktionen, die der Sache des LuttaDada dienen sollen, kommt dem solcherart Geehrten zuweilen doch ein schlimmer Verdacht. Könnte es sein, dass es vielleicht doch nicht nur um die ernsthafte Verbreitung des LuttaDadaismus geht? Diesbezüglich äußerte sich Astrid Mühlmann, Geschäftsführerin der staatlichen Geschäftsstelle „Luther 2017“. Sie behauptet, das LuttaDada sei ein „Geschenk für Marketingexperten“. Es stehe nämlich nicht allein für die Reformation, sondern habe zusätzlich alles, was einen „spannenden Werbeträger“ ausmache. Das LuttaDada habe, so Mühlmann, einprägsame Bilder produziert (Thesen mit Hammer an Tür nageln – und zwar live und in Farbe!), habe eine spannende Geschichte hingelegt (Kirche spalten, Nonnen heiraten, Teufel mit Tinte bewerfen) und sei durch einen zerrissenen Charakter geprägt gewesen.

Das LuttaDada muss zugeben, dass es das nicht geahnt hat. Eigentlich wollte es gut dadaistisch nur ein wenig die angenommenen Sinnhaftigkeit der Welt durcheinanderbringen. Nun muss es feststellen, dass damit vor allem Geld verdient werden soll.

Zum Schluss gilt es daher den Großen, Goldenen LuttaDada-Spezialpreis am Bande für kulturpolitische Gelassenheit zu verleihen, und zwar an die Stadt Erfurt und insbesondere an ihren Kulturdirektor Tobias Knoblich. Denn Erfurt und Knoblich (oder Knoblich und Erfurt) haben sich in diesen Tagen etwas getraut, das sich in dem ganzen Jubiläumsklimbim kaum jemand zu trauen scheint: Sie lassen es bleiben. Sie verzichten. Sie pfeifen drauf. Sie können ohne die ganz große Luther-Sause, machen nur eine kleine Ausstellung zur Luther-Rezeption in den Jahren 1917 (400. Reformationsjubiläum) und 1983 (500. Geburtstag Luthers), die auch nur von April bis Juni 2017 dauert. Ansonsten machen sie nicht mit bei dem, was unser Preisträger, Herr Knoblich, einen Überbietungswettbewerb in Sachen Reformationsjubiläum genannt hat.

Wie außergewöhnlich diese Nicht-Handlung und Nicht-Nachricht ist, wird schon durch die Tatsache belegt, dass sie eine eigene Zeitungmeldung wert ist. Aber anstelle einer knappen Benachrichtigung sollten – so verfügt es das LuttaDada – deutschlandweit ausgiebige Lobeshymnen auf Tobias Knoblich und die Stadt Erfurt gesungen werden. Denn aus diesem Beispiel lässt sich lernen: Man kann Kulturpolitik auch dadurch gestalten, dass man sich einer wesentlichen menschlichen Eigenschaft bedient, nämlich nicht immer nur Dinge anpacken zu müssen, sondern sie auch mal sein lassen zu dürfen. Let it be! Eine solche Einsicht, etwas früher und von ein paar mehr Menschen getroffen, wäre der Qualität des Jubiläumsgeschehens sicherlich zuträglich gewesen.

Lang lebe das LuttaDada!

Ähnlichkeitsbeschlagung. Fünfte These zur Geschichtskultur

Die fünfte These zur Geschichtskultur lautet: Die deutsche Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts tendiert dazu, Vergangenes nicht mehr als fremd und irritierend wahrzunehmen, sondern es sich der eigenen Gegenwart anzuähneln.

Immer Ärger mit den Unterschieden

Mit Unterschieden scheint die Gattung Mensch so ihre liebe Müh‘ und Not zu haben. Insbesondere bei Unterschieden, die irritierend wirken können, weil sie Unbekanntes, Fremdes, Unpassendes oder Abweichendes mit sich führen, sind regelmäßig Schwierigkeiten unterschiedlicher Art zu konstatieren. Denn Unterschiede wirken verunsichernd. Sie machen sogar Angst. Bekanntermaßen lassen sich solche Unterschiede nicht vermeiden (höchstens verdrängen). Sie platzen zuweilen unangemeldet in unseren Alltag hinein, stehen da in ihrer ganzen Nichteinsortierbarkeit, machen Arbeit, machen Ärger und vermitteln vor allem die unerwünschte Einsicht, dass die jeweils eigene Weltsicht keineswegs selbstverständlich, schon gar nicht naturnotwendig ist. Nach dieser Erkenntnis haben die Unterschiedsgeplagten aber meistenfalls gar nicht gefragt. Sie fiel ihnen meistens unerwartet auf die Füße.

Wie gut, dass es Areale dieser Welt gibt, die zwar durch eine Vielzahl von Unterschieden geprägt sind, in denen diese Unterschiede sich aber nicht aktiv aufdrängen, sondern vornehmlich passiv registriert und einsortiert werden können – und in denen die derart Einsortierten sich auch nicht großartig zur Wehr setzen. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb für westliche Kulturen der Dualismus von Kultur und Natur nicht nur überzeugend wirkt, sondern auch weiterhin attraktiv bleibt, weil zwar beide Bereiche sich durch eine schier unübersehbare Vielzahl von Differenzen auszeichnen, die sogenannte Natur sich aber durch übersichtliche Klassifikationsschemata disziplinieren lässt – und noch kein Tier und keine Pflanze dagegen aufbegehrt haben, in diverse Klassen, Familien und Gattungen verschoben zu werden. Es gibt dann zwar weiterhin unzählig viele Unterschiede, aber üblicherweise keine Überraschungen mehr.

Irritationslosigkeit

Der sogenannten Natur nicht ganz unähnlich ist die Welt der Vergangenheit. Tote Menschen teilen mit Tieren und Pflanzen die wesentliche Eigenschaft, Zumutungen der Taxonomie nicht (mehr) widerstehen zu können. Auch vergangenes Leben wird rubriziert, wenn auch nicht mit der Strenge und Detailliertheit wie dies im Bereich nicht-menschlichen Lebens geschieht. Doch auch jede Epochenbezeichnung und jede Festlegung eines historischen Wandlungsprozesses unterwirft das Leben der Vergangenheit einer kategorialen Eindeutigkeit, von der zumindest implizit alle wissen, dass sie in der beschriebenen Form nie existiert hat.

Das ist weder schlimm noch verwerflich. Unsere Denkapparate sind nun einmal so strukturiert, dass sie nicht mit endlos großer Differenziertheit umgehen können, sondern Vereinfachungen in Form von Schemata benötigen. Das mag man bedauern oder nicht, vermeiden lässt es sich kaum.

Die Angewohnheit, insbesondere vergangenes Leben mit entsprechenden Rubrizierungsanstrengungen zu bewältigen, wird jedoch dann problematisch, wenn ihm alle Fremdheitseffekte abgesprochen, sämtliche Irritationspotentiale entzogen und durchgehend Verunsicherungsmöglichkeiten untersagt werden.

Wenn ich im Folgenden von ‚der Geschichtskultur‘ (insbesondere in seiner deutschen Variante zu Beginn des 21. Jahrhunderts) spreche, dann ist das ebenfalls eine Kategorie, die viel zu vielfältige Dinge zusammenfasst, die sich eigentlich gar nicht zusammenfassen lassen. Daher möchte ich bereits an dieser Stelle jedem Absolutheitsanspruch bezüglich ‚der Geschichtskultur‘ entsagen und feststellen, dass es um nicht mehr (aber auch nicht weniger) als die Feststellung von Tendenzen geht.

Genauso, nur ein bisschen anders

Und die Tendenz lautet: Vergangenheit wird mit Ähnlichkeit beschlagen. Ganz im Sinne der erkenntnistheoretischen Binsenweisheit, dass man nur sehen kann, was man bereits weiß, zeigt sich am Beispiel der gegenwärtigen Geschichtskultur, dass sie häufig nur noch wissen will, was sie ohnehin schon sieht. Und das ist meistens nichts allzu weit entfernt von der eigenen Nasenspitze.

Nun sind Beziehungen welcher Art auch immer zuweilen keine ganz einfache Angelegenheit. Auch das eine Binsenweisheit, die aber nicht nur für den Bereich des Zwischenmenschlichen zutrifft, sondern auch für das Zwischenzeitliche gilt. Anders als bei Menschen, die sich das Leben gegenseitig schwermachen können, sind aber Chancenverteilung und Machtgefälle im Temporalen von vornherein und damit grundsätzlich ungleich verteilt. Nicht-gegenwärtige Zeiten haben nur wenig Möglichkeiten, sich gegen die Zumutungen einer Gegenwart zur Wehr zu setzen. (Dafür hatten sie einst andere Möglichkeiten, um vergangenen Zukünften, also unter anderem unserer Gegenwart, ein Schnippchen zu schlagen; aber das zu erläutern, würde vom eigentlichen Thema wegführen.) Wenn solche Gegenwarten bei der Beschreibung von Vergangenheiten also nicht aufpassen und sich zwischendurch nicht einmal auf die eigenen Fingerchen klopfen, dann, ja dann kann es geschehen, dass sie den einfachsten Weg historischer Erkenntnis wählen. Und der lautet bekanntermaßen: Früher war es genauso wie heute, nur ein bisschen anders. Also ähnlich.

Das Andere, das vergangene Zeiten für uns sein könnten, wird dadurch in Eigenes und Vertrautes verwandelt und muss eine Ähnlichkeitsbeschlagung über sich ergehen lassen. Der Vorgang ließe sich auch mit der angemessenen Negativität zum Ausdruck bringen: Es geht um Störungsverweigerung.

Wer spricht denn da?

Und ohne Frage ist das Reformationsjubiläum 2017 dafür ein illustratives Beispiel, schließlich fasst es sich selbst immer wieder zusammen in dieser einen Frage: Was kann uns Luther heute noch sagen? Darauf ließe sich mit ungebührlicher Besserwisserei antworten: Luther sagt uns heute gar nichts mehr, verstorben wie er ist! Wischt man jedoch eine solche oberflächliche Spitzfindigkeit beiseite, zeigt sich darunter ein ernsthaftes Anliegen. Denn wollte man tatsächlich herausfinden wollen, was Luther uns heute noch zu sagen hätte, dann gälte es vor allem, Luther zu lesen. Ich habe meine Zweifel, dass diese Lektürearbeit anlässlich des Jubiläums tatsächlich geleistet wird. Denn würde man Luther lesenderweise zur Kenntnis nehmen, müsste man feststellen, dass er in vielen, wenn nicht gar den meisten seiner Texte überhaupt nicht mehr zu uns spricht – zumindest nicht in dem Sinn, dass er unsere Probleme, unsere Fragen, unsere Gedanken, unsere Welt anspräche. Viel eher würde eine solche Lektüre andere Fragen provozieren. Nicht: Was kann er uns heute noch sagen? Sondern eher: Weshalb sprach er zu seinen Zeitgenossen so? Nicht: Welche heutigen Probleme können wir mit Luther behandeln? Sondern: Welche Probleme hatten die Zeitgenosse Luthers, dass er ihnen solcherart aus der Seele sprechen konnte?

Aber geht das nicht mit dem Verbot einher, Vergangenheiten, ganz egal welcher Art, in und für eine Gegenwart behandeln zu dürfen? Kann man dann überhaupt noch nach der Aktualität des Gewesenen fragen? Sicherlich kann man das. Aber nicht unter schamloser Ausnutzung des bereits benannten Machtgefälles zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wir müssen dem Vergangenen seine Einzigartigkeit nicht nur zugestehen, sondern sie auch schützen. Nur dann kann es zu einem Dialog kommen zwischen den Zeiten, nur dann können wir etwas lernen aus dieser Beziehung (denn wir lernen nicht ‚aus der Vergangenheit‘, sondern aus der Art und Weise, wie wir uns auf Vergangenheiten beziehen), nur dann können wir uns durch das Vertraut-Fremdartige, durch das Bekannt-Verwirrende hinreichend aus dem Trott bringen lassen, um nicht nur die Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart neu und anders zu befragen.

Die Realität des Reformationsjubiläums zeigt uns jedoch, wie die Ähnlichkeitsmaschinerie weitgehend gehaltlos vor sich hinschnurrt. Wir wollen gar nicht hören, was Luther uns heute noch zu sagen hätte. Wir lassen ihn vielmehr sagen, was wir heute hören wollen.